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Die Eroberung von Plassans - 4

Die Eroberung von Plassans - 4

Titel: Die Eroberung von Plassans - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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alten, langsam gewachsenen, furchtbar gewordenen Gefahr für ihn und die Seinen bewegte, in deren Tiefe das Haus versinken würde, wenn er es nicht rettete.
    »Marthe, Marthe, wo bist du?« stammelte er mit halber Stimme. »Komm, bring die Kinder mit.«
    Er suchte Marthe im Garten. Aber er erkannte den Garten nicht mehr wieder. Er erschien ihm größer und leer und grau und einem Friedhof gleich. Die Buchsbaumsträucher waren verschwunden, der Lattich war nicht mehr da, die Obstbäume schienen sich fortbewegt zu haben. Er kehrte um, ließ sich auf die Knie nieder, um nachzusehen, ob nicht die Schnecken alles abgefressen hatten. Vor allem das Fehlen der Buchsbaumsträucher, der Tod dieses hohen Grüns, schnürte ihm das Herz zusammen, wie der Tod eines lebenden Winkels des Hauses. Wer hatte denn die Buchsbaumsträucher getötet? Welche Sense war wohl darübergefahren, und hatte alles weggeschoren, sogar die Veilchen, die er am Fuß der Terrasse gepflanzt hatte? Ein dumpfes Knurren stieg angesichts dieser Vernichtung in ihm auf.
    »Marthe, Marthe, wo bist du?« rief er von neuem.
    Und er suchte sie in dem kleinen Gewächshaus rechts von der Terrasse. In dem kleinen Gewächshaus konnte er kaum treten, so voll war es von den vertrockneten Kadavern der großen Buchsbaumsträucher; sie waren bündelweise inmitten von Obstbaumstümpfen aufgestapelt, die wie abgeschnittene Gliedmaßen verstreut herumlagen. In einer Ecke hing an einem Nagel der Käfig, den Désirée für ihre Vögel benutzt hatte, in einem bejammernswerten Zustand mit zerbrochener Tür und starrenden Drahtenden. Von Angst befallen, als habe er die Tür eines Grabgewölbes geöffnet, wich der Irre zurück. Das Blut schwoll ihm in der Kehle, lallend ging er zur Terrasse hinauf, schlich vor der Tür und den verschlossenen Fenstern herum. Der Zorn, der in ihm wuchs, verlieh seinen Gliedern eine tierhafte Geschmeidigkeit; er duckte sich, ging lautlos, suchte einen Spalt. Ein Kellerloch genügte ihm. Er machte sich dünn, schlüpfte mit katzenhafter Gewandtheit hinein und zerkratzte dabei die Mauer mit seinen Fingernägeln. Endlich war er im Haus.
    Die Kellertür war nur zugeklinkt. Inmitten der dichten Finsternis in der Diele tastete er sich an den Mauern voran und stieß die Küchentür auf. Die Streichhölzer lagen links auf einem Brett. Er ging stracks auf dieses Brett zu, rieb ein Streichholz an und leuchtete sich, um eine Lampe vom Kaminsims zu nehmen, ohne etwas zu zerschlagen. Dann schaute er sich um. Es mußte am Abend irgendein großes Festessen stattgefunden haben. Die Küche war in einer Unordnung wie nach einer Gasterei: Teller, Schüsseln, schmutzige Gläser überhäuften den Tisch; ein wüstes Durcheinander noch lauwarmer Kasserollen stand auf dem Ausguß, den Stühlen, dem Fliesenfußboden herum; in einer Kaffeekanne, die man auf dem Rand eines Herdes vergessen hatte und die mit ihrem Bauch vorgerollt war wie ein Besoffener, kochte es. Mouret stellte die Kaffeekanne wieder richtig hin, räumte die Kasserollen weg; er beroch sie, witterte die Likörreste in den Gläsern, zählte die Schüsseln und Teller mit grimmigerem Knurren. Das war nicht seine Küche, die saubere und kühle Küche eines Kaufmanns, der sich zur Ruhe gesetzt hatte; man hatte darin die Nahrungsmittel eines ganzen Gasthauses vergeudet; diese gefräßige Unsauberkeit schwitzte die Völlerei aus.
    »Marthe! Marthe!« begann er wieder, als er mit der Lampe in der Hand in die Diele zurückkam. »Antworte mir, sag mir, wo sie dich eingeschlossen haben. Wir müssen fort, unverzüglich fort.«
    Er suchte sie im Wohnzimmer. Die beiden Schränke rechts und links vom Ofen standen offen; am Rande eines Brettes ließ eine aufgeplatzte graue Papiertüte Zuckerstückchen bis auf den Fußboden rollen. Weiter oben erblickte er eine Cognacflasche ohne Hals, die mit einem Leinenpfropfen verkorkt war. Und er stieg auf einen Stuhl, um die Schränke in Augenschein zu nehmen. Sie waren halb leer: die bauchigen Gläser mit den Branntweinfrüchten alle auf einmal angebrochen, die Töpfe mit Eingemachtem geöffnet und angelutscht, das Obst angebissen, die Vorräte aller Art angenagt, verdreckt wie vom Durchzug eines Rattenheeres. Da er Marthe in den Schränken nicht fand, schaute er überall nach, hinter den Vorhängen, unter dem Tisch; Knochen rollten hier zwischen vergeudeten Brotkrumen herum; auf dem Wachstuch hatten die Böden der Gläser Saftränder hinterlassen. Dann ging er durch den Flur, er suchte

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