Die ersten Zeitreisen
Insel.
Unterwegs holte Müsli einen abgegriffenen Zettel hervor,
auf dem er die wesentlichsten Atlantis-Hypothesen
notiert hatte. Er las: „1300 vor unserer Zeitrechnung Helgoland,
Untergang durch Flutwelle, die durch Einschlag
eines größeren Meteoriten hervorgerufen wurde. Hochbronzezeitliche
Kultur, Anfänge des Eisenschmelzens.Viel Gold und Bernstein. Hauptstadt Basileia.“
Viel war es nicht. Aber er hatte sich nie eingehender mit
dieser für ihn längst abgetanen Hypothese beschäftigt,
und die größte Bibliothek seiner Universitätsstadt war
nicht in der Lage gewesen, ihm weiterzuhelfen. So lange,
bis er die vorhandenen, aber nicht sofort greifbaren Bücher
in Ruhe lesen konnte, hatte er nicht warten wollen;
zu sehr drängte es ihn, endlich Klarheit zu schaffen. Also
kam er völlig unvoreingenommen auf der Insel an.
42. Auf Helgoland
angelangt, fand er sich in einer menschenleeren Heidelandschaft
mit etlichen lockeren, vom Wind zerzausten
Baumgruppen wieder. Im Osten wiesen Rauchfahnen
auf das Vorhandensein von Ansiedlungen hin, die jedoch
tiefer lagen als die Heide und daher nicht zu sehen
waren. Breitete sich dort vielleicht das sagenhafte Atlantis?
Der Professor schritt in jene Richtung aus. Nach wenigen
Minuten erblickte er rechts von seinem Wege hinter
einem kleinen Wäldchen zwei Papierdrachen am Himmel
und schmunzelte. Wie findig doch immer gerade die
Kinder waren! Eben überlegte Müsli, ob er nicht abbiegen
und die Kinder befragen sollte, als er vor sich im
Gras etwas glitzern sah. Er blieb stehen, bückte sich, fand
eine Kette aus Goldmedaillons von beachtlichen Ausmaßen
und hob sie auf, um sie genauer zu betrachten.
43. Die Medaillons
zeigten verschlungene, rautenförmige Ornamente; auf
zweien allerdings fand Müsli Abbildungen von Segelschiffen.
Er wunderte sich über die ausgezeichnete Prägetechnik
— die Medaillons waren wirklich kreisrund,
gratfrei, alle von gleicher Größe — und darüber, daß die
Kette einfach so herumlag, ziemlich gut sichtbar, ohne
daß sich jemand für sie interessiert hatte. Was mußten
die Helgoländer für ein reiches Volk sein, wenn sie solchwertvolle Dinge achtlos liegenließen! Der Professor
holte seinen Zettel hervor: „Viel Gold und Bernstein.“
Als er den Zettel wieder wegsteckte, erklang hinter ihm
eine Stimme. Müsli wandte sich um und erblickte einen
vielleicht zehnjährigen Jungen und ein etwas jüngeres
Mädchen, die in kittelähnliche Umhänge aus hellem,
grobem Tuch gekleidet waren. Der Junge trug einen großen
Drachen unter dem Arm.
Müsli hatte sich die vorzeitlichen Helgoländer immer als
in Tierfelle gekleidete Hünen vorgestellt, warum, wußte
er selbst nicht zu sagen. Das Auftauchen der Kinder
überraschte ihn daher. Außerdem hatte er kein Wort verstanden.
44. Die Kinder
warteten geduldig auf Antwort, die ihnen Müsli schuldig
blieb. Endlich fiel ihm der Taschenübersetzer ein. Er
holte ihn hervor und betätigte den Schalter. Dann wußte
er nicht, was er sagen sollte, lächelte und drehte gedankenlos
die Kette um den Finger.
„Ist das deine Kette?“ erkundigte sich das Mädchen.
Müsli lächelte vorsichtshalber noch strahlender und antwortete:
„Hm . . ., na ja . . . Die hier?“
„Unser Drachen ist kaputt“, erklärte der Junge sachlich
und zeigte, wo in der Bespannung ein langer Riß klaffte.
„Gibst du uns neues Papier?“
Der Professor zog die Augenbrauen und die Schultern
hoch, dann sagte er: „Das tut mir schrecklich leid, aber
ich hab keins bei mir. Ich hab überhaupt keins.“
Der Junge sah ihn ungläubig an. „Aber du bist doch auch
von der Atlandei?“
„Woher?“
„Von der Atlandei. Bist du etwa nicht . . .?“
45. „Also auch hier . . .“,
stammelte der Professor mit weit aufgerissenen Augen,
seine Umwelt vergessend. Die Kette, die er herum gewirbelthatte, flog ihm vom Finger und fiel ein Stück entfernt
ins Gras, ohne daß er es bemerkte. Also auch hier, dachte
er erschüttert, das dritte authentische Atlantis — das ist
mehr, als ein Mensch ertragen kann, selbst ein Atlantologe.
Die jahrelangen Forschungen — alles für die Katz.
Ja, ist denn Atlantis überall?
Er sah in Gedanken Bert Brundels, der ihn höhnisch anblickte.
„Nein!“ rief Professor Hieronymus und dachte: Nein,
das darf nicht sein, das
kann
nicht sein! Ich muß einen
Ausweg aus dem Irrsinn finden. Ich muß die Ruhe bewahren
und nachdenken, ruhig, ganz ruhig . . .
46. Das Mädchen
hatte inzwischen die Kette aufgehoben
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