Die Fäden des Schicksals
die Liza ihrer Tante gegenüber so oft an den Tag legte. Stattdessen klang ihre Stimme leer und verzweifelt, was mich noch stärker beunruhigte. Ich stellte mich neben sie und las die Inschrift auf dem Stein.
SUSAN KATHERINE BURGESS
GEBOREN 26. JUNI 1950
GESTORBEN 20. SEPTEMBER 2005
Auf Susans Grab stand nicht, dass sie eine geliebte Mutter gewesen war, doch das konnte man in den Augen ihrer Tochter lesen. Wie sie ihre Mutter vermisste! Ich legte Liza den Arm um die Taille. Sie hielt die Augen unverwandt auf das Grabmal gerichtet, doch ich spürte, wie sich ihr Körper ein wenig entspannte, als sie sich gegen mich lehnte.
»Erzähl mir von ihr.«
»Sie war meine Mutter«, erwiderte Liza einfach. »Sie kümmerte sich um mich. Sie achtete darauf, dass ich meine Hausaufgaben machte und mein Zimmer aufräumte. Immer wieder sagte sie mir, dass sie mich liebte, und wenn ich etwas ausgefressen hatte, schrie sie mich an. Normalerweise hatte ich es verdient, und deshalb machte ich mir nicht viel daraus. Sie arbeitete wirklich hart, weil ich keinen Vater hatte. Ich meine … natürlich habe ich einen Vater, aber der ist schon vor meiner Geburt abgehauen.« Liza zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht einmal, wer es ist. Mom musste alle Rechnungen selbst bezahlen, und manchmal war sie wirklich erschöpft. Doch der Sonntag gehörte nur uns beiden. Nach dem Aufstehen machte sie ein großes Frühstück, Pfannkuchen oder Waffeln oder so was, und dann unternahmen wir etwas zusammen. Irgendetwas, das nicht viel kostete, wie ein Spaziergang im Park, ein Schaufensterbummel oder ein Konzert mit freiem Eintritt, von dem sie gelesen hatte.«
Bei der Erinnerung daran musste Liza lächeln. »Manche von diesen Konzerten waren ziemlich gruselig. Einmal, im Februar, als das Wetter kalt und scheußlich war, fand Mom in der Zeitung nichts weiter als ein Akkordeonkonzert in der Moose Lodge. Warst du schon mal bei einem Akkordeonkonzert?« Ich schüttelte den Kopf. »Na, da hast du auch nichts verpasst. Und es nahm einfach kein Ende! Mom schnitt die ganze Zeit über alberne Grimassen und tat so, als wollte sie jeden Augenblick aufspringen und Polka tanzen oder so was. Ich musste mir das Lachen verkneifen, bis ich fast daran erstickt wäre. So war Mum. Sie konnte aus allem einen Spaß machen.«
»Sie war bestimmt eine wunderbare Mutter. Du hattest Glück.«
»Ja, ich hatte Glück«, flüsterte Liza. »Eine Zeit lang jedenfalls. Sie war der einzige Mensch, auf den ich mich immer verlassen konnte. Zumindest glaubte ich das, aber dann …« Sie starrte auf das Grabmal, und eine Träne quoll aus ihrem Augenwinkel. »Jetzt habe ich niemanden mehr.«
»Niemanden wie deine Mutter. Das wird es nie wieder geben, aber du bist nicht so allein, wie du denkst, Liza. Es gibt eine Menge Leute, denen du viel bedeutest. Margot und mich. Und deine Tante Abigail. Sie hängt mehr an dir, als du weißt.«
Liza verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. »Sie hängt nicht im Geringsten an mir. Sie zieht eine Show ab, aber in Wirklichkeit interessiert sie sich nur für sich selbst.«
»Das stimmt nicht. Es ist ungerecht.« Endlich blickte Liza mich an, und ihre Augen blitzen. Sie wollte widersprechen, doch ich ließ sich nicht zu Wort kommen. »Hör mir zu. Ich weiß, dass es nicht immer einfach war, mit ihr zu leben, doch sie hat sich geändert. Wie sie dich und deine Mutter behandelt hat, war wirklich … nun ja, schändlich. Ich weiß das, weil sie es mir selbst erzählt und genau dieses Wort benutzt hat.«
Liza runzelte die Stirn. Sie konnte noch gar nicht glauben, was sie da eben gehört hatte. »Sie hat dir von Mom erzählt? Und von mir? Und warum ich bei ihr wohne?«
Ich nickte. »Das hat sie mir alles erzählt.« Liza errötete. Vermutlich schämte sie sich, weil ich wusste, dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war.
»Mach dir deswegen keine Gedanken, Liza. Ich denke darum nicht schlechter von dir. Was du getan hast, war nicht recht, aber manchmal, wenn ein Mensch großen Kummer mit sich herumschleppt und sehr leidet, dann tut er Dinge, die er sonst nicht tun würde. Das heißt noch nicht, dass er ein schlechter Mensch wäre, selbst wenn es manchmal so aussieht.« Ich zögerte, bevor ich weitersprach.
»Auch wenn du es vielleicht nicht glaubst, aber Abigail hat sich wirklich verändert. Ihr ist klar geworden, was sie getan hat, und es tut ihr leid. Sie wünscht sich eine zweite Chance, damit sie alles zwischen euch wieder ins Reine bringen
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