Die Fäden des Schicksals
außerdem ist es sein erstes Jahr bei der Firma, da steht ihm noch nicht viel Urlaub zu. Offen gestanden«, fügte sie ein wenig verlegen hinzu, »habe ich ihm noch gar nichts von dem Krebs erzählt.«
»Evelyn! Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Margot.
»Wie können Sie nur Ihrem eigenen Sohn so etwas verschweigen?«, fügte Liza in dem vorwurfsvollen Ton hinzu, der ansonsten mir vorbehalten war. »Er hat ein Recht, es zu erfahren. Ich bin sicher, dann wird er versuchen, Ihnen zu helfen.«
Evelyn rieb sich mit der Hand seitlich am Hals, eine Gewohnheit, die bei ihr, wie ich bemerkt hatte, ein Zeichen von Anspannung war. »Ich weiß, ich weiß. Ich werde es ihm erzählen, aber erst in ein paar Wochen, wenn alles vorüber ist.« Als Liza ihr einen kritischen Blick zuwarf, seufzte Evelyn.
»Sie haben ja recht, Liza. Garrett ist ein wunderbarer Sohn. Wenn er davon wüsste, würde er auf jeden Fall kommen, um mir beizustehen. Und genau das kann er sich im Augenblick nicht erlauben, nachdem er gerade eine neue Stelle angetreten hat. Claremont Solutions ist einer der wichtigsten Industriebetriebe. Das ist für Garrett eine große Chance. Er hat sich gegen fünfzig weitere hochqualifizierte Bewerber durchgesetzt. Wenn er sich jetzt freinimmt und zu mir kommt, brauchen die Leute von Claremont nur mit den Fingern zu schnippen, und jemand anders übernimmt seinen Job. Ich will nicht, dass er seine Zukunft aufs Spiel setzt, bloß weil ich einen dummen kleinen Knoten in der Brust habe, der in ein paar Wochen weg und vergessen ist«, sagte sie mit Bestimmtheit.
Margot wollte etwas erwidern, doch ich kam ihr zuvor.
»Sehr vernünftig, Evelyn. Sie haben vollkommen recht. In wenigen Wochen haben Sie das Schlimmste überstanden; da hätte es keinen Sinn, die Karriere ihres Sohnes wegen eines kleinen Eingriffs zu gefährden, nicht wahr?« Ich blickte Margot eindringlich an.
»Nun ja«, sagte sie langsam, und ich bemerkte, dass sie ihre Worte sorgfältig wählte. »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, es ihm zu verschweigen. Aber Sie kennen Ihren Sohn schließlich, Evelyn. Vielleicht ist es wirklich besser, es ihm erst nach der Operation zu erzählen. Einen guten Job soll man nicht aufs Spiel setzen, denn die sind heutzutage nicht sehr dicht gesät. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Und außerdem sind wir ja da, um Sie nach besten Kräften zu unterstützen, bis Sie wieder gesund sind.«
Im Kerzenschein konnte ich erkennen, dass Evelyn feuchte Augen bekam. »Sie waren alle so wunderbar zu mir. Wenn ich kein Einzelkind wäre, sondern drei Schwestern hätte, könnten sie nicht freundlicher und hilfsbereiter sein. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
Oje. Entgegen meinen Erwartungen war es ein netter Abend gewesen. Zumindest bis jetzt. Auf eine rührselige Szene, die alles verdarb, konnten wir wirklich verzichten. Also griff ich ein.
»Sie haben uns heute Abend doch so nett Ihre Dankbarkeit gezeigt«, sagte ich überschwänglich. »Es war einfach herrlich, so ein köstliches Essen nach einer langen, mühseligen Woche.«
Evelyn lächelte. Zu meiner Erleichterung hatte sie die Tränen hinuntergeschluckt. »Es war mir wirklich ein Vergnügen«, erwiderte sie. »Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich Ihnen dreien Gutes tun könnte, und plötzlich kam mir die Idee.«
»Das wäre aber nicht nötig gewesen«, sagte Margot. »Es hat uns gar keine Mühe bereitet, Ihnen zu helfen. Mir hat es sogar Spaß gemacht. Auf jeden Fall ist es interessanter, im Cobbled Court zu arbeiten, als dauernd vergeblich Bewerbungen zu schreiben.« Margots normalerweise fröhliche Miene verdüsterte sich. Es war das erste Mal, dass ich sie anders als gut gelaunt erlebte. Offensichtlich hatten ihr die Monate der Arbeitslosigkeit mehr zugesetzt, als sie eingestehen mochte.
»Ich weiß ja, dass wir eine Wirtschaftsflaute haben. Trotzdem hätte ich mir nie vorstellen können, dass es so schwer ist, eine neue Stelle zu finden. Ich fing schon langsam an, an meinen Fähigkeiten zu zweifeln, doch die Arbeit mit Ihnen, Evelyn, hat mich daran erinnert, dass ich wirklich etwas kann, auch wenn Amerikas Firmen meine Dienste anscheinend nicht benötigen. Ich kann nur für mich selbst sprechen, aber ich finde, Sie helfen jeder von uns mindestens ebenso sehr wie wir Ihnen.« Margot blickte mich an, als rechnete sie mit einem Einwand, bevor sie hinzusetzte: »Ich glaube jedenfalls, dass Gott uns aus diesem Grund zusammengeführt hat. Auf
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