Die falsche Frau
persönlichen Dinge zur Erinnerung an sich genommen. Kann gut sein, dass er noch einmal an den Tatort zurückkommt.«
»Möglich«, sagte Karlich. »Beobachten wir den Platz eine Weile.«
»Was glaubst du, wie sie ums Leben gekommen ist?«, fragte Rosen.
»Höchstwahrscheinlich erwürgt«, sagte Karlich. »Auf den ersten Blick kann ich aber keinerlei Würgemale am Hals entdecken.«
Sarah nahm den Kopf der Leiche zwischen ihre Hände und drehte ihn auf die Seite.
»Doch, hier!«
Sie deutete auf drei blaugrüne Flecken neben der Halsschlagader.
Karlich nickte.
»Ansonsten keine Hinweise auf körperliche Gewalt?«
»So viel wie jetzt zu erkennen ist, nein«, sagte Semir. »Warten wir den gerichtsmedizinischen Bericht ab.«
»Was ist mit ihrem Gesicht? Mit dem frisch gewaschenen Haar?«
Karlich sprach im Telegrammstil, für ihn das beste Mittel, die Dinge nicht zu nah an sich rankommen zu lassen. Selbst nach zwanzig Jahren Berufserfahrung waren Morde wie diese für ihn immer noch ein Schlag in die Magengrube, das wusste Sarah, aber im Gegensatz zu ihr wusste Bruno seine Aufregung zu verbergen.
Dr. Rosen hatte sich nur ein paar Meter von der Leiche entfernt auf die Stufen des Tempels gesetzt. Sie war erschöpft. Jetzt sind die anderen dran, dachte sie, und beobachtete die Beamten, die das Gelände nach weiteren Indizien absuchten.
Auf der Hinterseite des Tempels hatten sie tatsächlich einen Fund gemacht.
»Das haben wir da drüben zwischen den Sträuchern gefunden«, sagte der eine und gab Karlich eine schwarze Geldbörse in die Hand, groß wie eine Kellnertasche.
»Glaubst du, dass es eine Frau getan haben könnte?«, fragte Karlich und untersuchte den Inhalt der Börse.
Er fand Pass, Kondome, Gleitcreme, Adressbuch und verschiedene Quittungen aus dem Orient-Hotel für stundenweise Zimmermiete.
»Unwahrscheinlich. Es kommt sehr selten vor, dass eine Frau so planvoll und inszeniert mordet«, sagte sie. »Eine Perversion, die uns nicht liegt.«
»Bist du da sicher?«, fragte Karlich.
»Ziemlich. Geben Sie mir mal Ihre Taschenlampe, Semir.«
Nach einem weiteren Versuch, sich die Hände der Leiche anzusehen, konzentrierte sich Sarah Rosen auf ein Detail, das sie bisher nicht bemerkt hatte.
»Sogar frisch lackierte Fingernägel«, sagte sie. »Sehen Sie?«
Semir, der sich nur widerwillig auf Dinge aufmerksam machen ließ, die von Dr. Rosen kamen, beugte sich missmutig über die Finger der Leiche.
»Was Gewalt heißt, ist nichts«, zitierte Rosen. »Verführung ist die wahre Gewalt. Emilia Galotti. Kennen Sie das Stück?«
Semir gab ein verächtliches Schnaufen von sich.
Wahrscheinlich hatte sie eine Spur zu belehrend geklungen, aber Semir machte es ihr auch nicht leicht.
»Was soll das denn heißen?«, sagte er.
»Dass der Tatort von Bedeutung ist. Außerdem hatte Emilia Galotti gerade Premiere.«
Bruno Karlich, der auf Semir alles in allem sehr stolz war und ihn lange nicht so störrisch erlebt hatte, nahm seinen Mann beiseite.
»Bei der Leiche handelt es sich offenbar um eine Prostituierte. Irene Orlinger, zweiundzwanzig Jahre alt«, sagte er. »Sie hat alle ihre Kunden im Adressbuch aufgelistet und sich daneben Notizen über ihre sozialen Kontakte und sexuellen Vorlieben gemacht. Ungewöhnlich, äußerst ungewöhnlich. Bis heute um elf will ich wissen, wo sich diese Frau zuletzt aufgehalten hat und mit wem sie zuletzt gesehen wurde, Semir. Danke, Sie haben gute Arbeit geleistet.«
»Warte noch, Bruno.«
Sarah Rosen deutete auf die Augenlider der Toten.
»Seltsam, die Frau muss Kajalstift mit Lipliner verwechselt haben.« Irene Orlinger hatte tatsächlich violette Lippen, die mit einem schwarzen Strich umrandet waren. Um die Augenlider trug sie aber Linien, die von einem farblich auf den Lippenstift abgestimmten Konturenstift kommen mussten. »Ob sie sich absichtlich falsch geschminkt hat? Oder musste der Mörder sie aus irgendeinem Grund im Dunkeln schminken und hat dabei die Stifte verwechselt?«
Karlich zuckte nur mit den Achseln.
»Warten wir den Obduktionsbericht ab!«
Dann ging er auf Sarah zu und legte den Arm um sie.
Er verehrte sie auf eine altmodische Weise, zurückhaltend und wie ein Kavalier.
»Ich hatte schon ganz vergessen, dass du so belesen bist. Sehen wir uns in der Pathologie?« Karlich blickte sie zweifelnd an, als würde er mit einer Absage rechnen.
»Natürlich«, sagte Rosen mit heiserer Stimme und löste sich sanft aus der Umarmung, seinen traurigen Augen
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