Die falsche Frau
zuwies, auf dem sie bisher nur beim Erstgespräch Platz genommen hatte. Sie war nervös und schob die Ärmel ihres Wollpullovers hoch und runter.
»Sie sind also zur Polizei gegangen und haben den Mord an Irene Orlinger gestanden?«, fragte Rosen.
»Ja«, antwortete Patrizia mit fester Stimme. »Ja, das habe ich.«
Dann senkte sie die Augen und ließ ihre Hände resigniert in den Schoß fallen. Wie sie so da hockte, in ihrem fein geblümten Cordrock, sah sie aus wie eine Schülerin. Kein Vergleich mit der imposanten Erscheinung, die sie als Antonia auf der Bühne abgegeben hatte.
»Wir waren Freundinnen«, sagte sie. Aus ihrem Gesicht, das sich langsam wieder hob, sprach Verzweiflung.
»Zumindest hätten wir welche werden können.«
»Sprechen Sie von Irene Orlinger?«, fragte Dr. Rosen.
Patrizia nickte.
»Wir waren gerade dabei, einen intensiven Blick auf unsere Beziehung zu richten, und Sie haben mit großer Aufregung darauf reagiert. Am Ende der Stunde sind Sie wütend aus der Praxis gestürzt. Können Sie über dieses Gefühl sprechen? Möglicherweise hängt es eng mit Irene und der Freundschaft zusammen, die sie zu ihr gesucht haben.«
Sarah Rosen wusste, dass die Therapiestunden, die ineinander übergingen, die wirkungsvollsten waren, und wartete ab, was geschehen würde.
»Mit Irene?« Patrizia schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Was soll Irene damit zu tun haben?«
»Erzählen Sie mir doch, wie sich Ihre Freundschaft entwickelt hat. Wo haben Sie sich denn kennen gelernt?«, fragte Sarah Rosen.
Sie fühlte, wie Patrizia mit sich rang. Mal legte sie den Kopf in ihre Hände, dann wieder wühlte sie mit ihren Händen im Haar.
»Es war ein Tag nach meinem Geburtstag, im Café Jelinek. Sie saß allein und lächelte, als ich rein kam. Wir waren uns auf den ersten Blick sympathisch, sogar richtig vertraut. Sie sagte, dass sie ihr Studium schmeißen wollte.«
Patrizia brach jäh ab.
»Ja?«, fragte Rosen.
»Ja was?«, fragte Patrizia schnippisch zurück, nahm ihre Handtasche vom Boden auf und klammerte sich daran fest.
»Sie kannte mich, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen. Irene war schließlich ein Opernfan! Verdi, Mozart, Offenbach. Da hab ich sie zur Premiere eingeladen. Ich dachte … ich hätte …«
Patrizia konnte nicht länger still sitzen und lief zum Fenster.
»Ich dachte ich hätte eine Freundin gefunden«, sagte sie erbost.
Sarah Rosen blieb still.
Diese Frau war alles andere als geistesgestört, dachte sie. Theatralisch, mit einem Hang zur Manie, das ja.
»Sie sagte, dass sie normal sein wollte. Normal heiraten, normal denken, fühlen, Freunde haben«, erzählte Patrizia weiter, »bevor …«
»Bevor was?«, hakte Sarah Rosen ein. »Was glauben Sie, hat Irene Orlinger gemeint, als sie darüber sprach, dass sie sich nach einem normalen Leben sehnte«, fragte Rosen.
Patrizia starrte vor sich hin. »Normal? Sie hat mich betrogen«, sagte sie. »In der Zeitung stand, dass sie Prostituierte war. Mir hat sie aber erzählt, dass sie BWL studiert.«
»Betrogen?«, wiederholte Sarah. »Weil sie nicht verraten hat, dass sie als Hure arbeitete?«
»Ja.«
Ein Häufchen Elend saß jetzt vor ihr, das die Kontrolle über sich verloren hatte, aber die Geschichte von Verrat und Betrug ging noch weiter.
Sarah war überzeugt davon, dass Patrizia sich erst nachträglich zur Mörderin erklärt haben musste und die Zeitungsmeldung mit den Enthüllungen über Irene der Auslöser für ihre Gedankenflucht war.
Ihre Wut musste so groß gewesen sein, dass sie sie in einen paranoiden Zustand gebracht hatte. Aber warum? Was genau war der Grund dafür? Allzu strenge Moralvorstellungen? Wohl kaum. Hatte Patrizia Blackouts gehabt, von denen sie nichts wusste? Etwas, das mit dem Betrug zusammenhing? Sarah Rosen überlegte, ob sie Patrizia unter Hypnose stellen sollte, um weiter zu kommen, doch dann verwarf sie die Idee wieder.
»Gibt es Zeiten in Ihrem Leben, in denen Sie sich an nichts erinnern können?«, fragte Rosen. »Sind Sie mal aufgewacht und wussten nicht, was für ein Tag war oder was sie am Tag davor gemacht haben?«
Patrizia nickte stumm.
Ihr Gesicht sah müde und fahl aus. Als hätte sie zwei oder drei Nächte nicht geschlafen.
»Können Sie mir schildern, was genau an dem Abend passiert ist, als Sie Irene das letzte Mal gesehen haben?«
Patrizia vergrub ihr Gesicht.
»Ich werde es versuchen«, sagte sie leise und begann Einzelheiten zu erzählen. »Ich wollte sie zur Rede
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