Die falsche Frau
die ihr heute partout nicht ins Ohr gehen wollte.
François und seine schamlosen Blicke. François, der sie gegen die Wand der Zelle drückte und noch im Stehen nahm. Ein in ihrer Vorstellung glühendes Geschehen, das sie ausschmückte und variierte, bis diese Vorstellung nach und nach an Kraft verlor. Sarah seufzte leise. Hugo Wolf und seine Lieder hatten nicht mal den Anflug eines sentimentalen Schwelgens bewirkt, obwohl das, was sie hörte, exzellent war.
Vertonte Gedichte von Michelangelo!
Sarah zupfte an ihrem Chiffontuch, ein Geburtstagsgeschenk von Georg, das sie nicht besonders mochte, heute aber ihm zuliebe trug, bevor er mit seinem Sänger auf Konzertreise durch die Beneluxländer verschwinden würde. Ein Abend wie dieser, den sie normalerweise in vollen Zügen genoss, kam ihr jetzt wie Schwindel vor.
Georg kreiste mit seinem Oberkörper vor den Tasten herum wie ein alter keuchender Brummkreisel.
Sarah sah ohne zu hören. Das Gesicht des Sängers, eine hässliche Fratze. Jedes Husten im Publikum eine stumme Kakophonie sich blöd öffnender Münder.
Ich muss raus hier, dachte sie, sah auf ihre Armbanduhr, dann wieder ins Programmheft. Sofort raus. Aber der Nachbar zu ihrer Rechten tupfte sich mit einem Stofftaschentuch, das er bedächtig aus der Brusttasche seines Jacketts zog, die feucht schimmernden Augen. Sollte sie ihn etwa um Verzeihung bitten und einfach aufstehen?
Nach quälenden zehn Minuten, in denen ein Lied über irdische und himmlische Liebe erklang, war endlich Pause.
Verhaltener Applaus.
Georg machte einen Schritt nach vorne und verbeugte sich Hand in Hand mit dem Weltmeister der Liedinterpreten.
Frenetischer Applaus.
Sie würde in die Garderobe gehen, dachte sie, ihm schnell Glückwünsche überbringen und sich dann empfehlen. Aber die Menschenschlange, die sich nach draußen zum Foyer schieben wollte, kam nur schwer voran. Sarah Rosen schaltete ihr Handy wieder ein. Um sie herum Stimmengewirr und Kleidergeraschel. Das übliche Palaver über Wetter, Steuerreform und den Finanzminister. Beim Ausgang angelangt, fühlte sie, wie ihr jemand von hinten auf die Schulter tippte. Hoffentlich keiner meiner Patienten, ging es ihr durch den Kopf. Sarah sah sich flüchtig um.
»Sie lieben also Hugo Wolf?«
Sarah fuhr zusammen. Noch bevor sie sich wieder fangen konnte, hatte die Stimme Gestalt angenommen. Der Mann lächelte. Sie lächelte höflich zurück.
»Erwin Wolowiec. Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!«
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte er. »Das wollte ich wirklich nicht.«
Sie musterte ihn. Das Gewicht, das er im Laufe der Jahre zugelegt und das sich rund um seinen Bauch angesetzt hatte, stand ihm gut.
»Hugo Wolf? Habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich keine Romantikerin bin?«
Wolowiec zwinkerte und sah weg. Immer noch diese Schüchternheit, diese elende Verklemmtheit. Doch plötzlich legte er seine Hand zwischen ihre Schulterblätter und schob sie zum Büfett.
Sarah sah sich gezwungen, ihre Rolle gut zu spielen, kam sich aber wie eine Heuchlerin vor. Zu gut erzogen, um diesem lästigen Menschen den Rücken zu kehren. Wusste Wolowiec, dass Georg Mildner ihr Partner war? Wusste er, dass sie dieses Konzert besuchen würde?
»Und Ihre Freundin?«, fragte Sarah. »Warum ist sie denn nicht mitgekommen?«
Wolowiec fingerte an seiner Krawatte. Leichtes Rot verfärbte sein Gesicht. Er erklärte umständlich, dass sie krank sei, noch nicht ganz wieder auf den Beinen wegen einer ganz fatalen Virusgrippe.
Das war gelogen, dachte sie, in sich hineinlächelnd.
»Vielleicht können wir uns mal zum Abendessen treffen?«, fragte er.
Zum Glück läutete das Handy, sonst wäre sie vielleicht doch noch aus der Rolle gefallen. Mit Erleichterung sah sie, wie sich ihr Verehrer wieder dem Publikum anschloss, das jetzt Richtung Konzertsaal strömte.
Ich glaub’s nicht, dachte sie und nahm das Gespräch an. Für ihn war sie immer noch Schwester Ilse. Die Übertragung hält eine Ewigkeit! Der jähe Abbruch der Therapie, über den sie nie wieder gesprochen hatten, lag ihr als schweres Versagen im Magen. Kein Wunder, dass er sich nicht von ihr lösen konnte. Er liebte sie.
»Sarah, hörst du mir überhaupt zu?« Bruno Karlich am anderen Ende der Leitung wurde langsam ungehalten.
»Verzeih«, sagte Sarah, »ich war nicht ganz bei der Sache.«
»Wir haben Irenes Joggingsachen im Volksgarten gefunden«, sagte Karlich. »Das spricht eindeutig für deine Vermutung, dass der Täter
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