Die falsche Frau
hatten zusätzliche
Bahnen eingesetzt, die Deutsche Bahn Sonderzüge. Streifenwagen standen an jeder
Ecke, ungezählte Mannschaftswagen voller Bereitschaftspolizei umzingelten die Altstadt.
Beginnen würde der Demonstrationszug auf dem Marktplatz mit
Ansprachen diverser Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre. AnschlieÃend würde
der Zug sich die HauptstraÃe entlang in Richtung Westen bewegen, um sich am
Bismarckplatz wieder aufzulösen. Auf den Plakaten hatte ich eine kunterbunte Mischung
von Parolen gelesen: Stopp dem Wachstumswahn, Lasst die
Banken ihre Schulden selbst bezahlen, Chancengleichheit für die Dritte Welt,
Wir haben nur eine Erde, Kleiner ist feiner!
Die Veranstalter rechneten mit fünfzig- bis sechzigtausend
Teilnehmern, die Polizei mit Ausschreitungen. Von ferne hörte ich das Knattern
eines Hubschraubers durchs offen stehende Fenster, während ich meinen heute
selbst gemachten Cappuccino schlürfte, die frische Morgenluft genoss sowie den
Umstand, dass Helena offenbar nicht vorhatte, ins Büro zu kommen.
Eine Frage lieà mich seit gestern Abend nicht mehr los: Wie waren
Prochnik und von Arnstedt mit der Terroristin in Kontakt gekommen? Prochnik
hatte sie vielleicht immer noch geliebt. Aber er war in den vergangenen Jahren
kaum gereist. Wenn, dann nach Gorleben oder Stuttgart, aber gewiss nicht bis
Pakistan. In meinen Augen war es mehr als unwahrscheinlich, dass die beiden den
Kontakt ein Vierteljahrhundert lang und über Tausende Kilometer hinweg
aufrechterhalten hatten. Also mussten sie ihn irgendwann und irgendwie wieder
aufgenommen haben. Auf wessen Initiative hin?
Die Tarnung der Terroristin in Pakistan war perfekt. Sie hätte dort
zwar nicht mit groÃem Komfort, aber doch in Ruhe alt werden können. Hätte sie
das aufs Spiel gesetzt, um mit ihrer alten Liebe wieder anzubandeln? Auf die
Gefahr hin, dass Prochnik schnurstracks zur Polizei lief? Auch umgekehrt ergab
es keinen Sinn. Wie hätte Prochnik wissen sollen, wo seine ehemalige Flamme
sich versteckt hielt? Ãber gemeinsame Bekannte vielleicht? Hatte Helena nicht
gesagt, die dritte Generation der RAF habe ihren sinnlosen Kampf in strikt
voneinander abgeschotteten Zellen geführt? Wie sollte es da gemeinsame Bekannte
geben? Gab es vielleicht noch eine andere Möglichkeit? Eine, die ich bisher
nicht bedacht hatte?
Ich machte mir einen zweiten Cappuccino und trat damit ans Fenster.
Ein klarer, tiefblauer Himmel überspannte die Stadt. Die Farben leuchteten in
der Morgensonne, wie sie es nur im Frühherbst tun. Kaiserwetter.
Demonstrantenwetter. Prügelwetter. Am Römerkreis stauten sich die Massen an den
FuÃgängerampeln. An jeder Ecke Blaulicht. Ein kleiner Hubschrauber flog langsam
und in geringer Höhe nach Westen und wieder zurück. Vermutlich das Kamerateam
eines Fernsehsenders.
Plötzlich war der Gedanke da: War es womöglich gar nicht Prochnik
gewesen, der mit Judith Landers in Verbindung trat, sondern �
Ich ging zu meinem Schreibtisch zurück, stellte die fast noch volle
Tasse ab, wühlte in meinen Notizen, kramte in meiner Erinnerung. Aber ich fand
nichts, was meine Theorie gestützt oder widerlegt hätte. Dann aus dem Nichts
die Erinnerung. Ich nahm den Hörer in die Hand. Sekunden später hatte ich Peter
von Arnstedts Mutter in der Leitung.
»Bei unserem ersten Gespräch sagten Sie, Ihr Sohn hätte Ihnen früher
immer Bescheid gegeben, wenn er vorhatte zu verreisen.«
»Ja. Weshalb fragen Sie?«
»Würden Sie mir verraten, wo er in den letzten Jahren überall war?«
»Das ist nicht weiter schwer. Fernreisen hat Peter strikt abgelehnt.
Einmal hat er mir vorgerechnet, wie viel Treibstoff Flugzeuge verbrauchen und
was wir unserer Atmosphäre damit antun. Er meinte, die Welt könne man sich auch
im Internet ansehen, und wenn jeder Mensch sie bereisen wollte, dann würde sie
bald untergehen, diese Welt. Nachdem er aus den USA zurück war, ist er nur noch
einmal geflogen. Vorletztes Jahr, im Sommer. Er war in Indien. Zusammen mit
seiner damaligen Freundin.«
»Mit Selma Mangold?«
»Selma kam später, nein. Den Namen der anderen ⦠ich müsste
nachsehen.«
»Wissen Sie, wo genau Ihr Sohn auf dieser Reise überall war?«
»Im GroÃen und Ganzen ja. Anfangs haben wir hin und wieder
telefoniert. Er hat E-Mails geschrieben mit Fotos. Vielen Fotos. Einige davon
habe ich mir
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