Die falsche Tochter - Roman
zwei.«
»Ja, aber wir sind beide nicht besonders nett. Suzanne möchte ihre Tochter zurückhaben, und ich nutze das aus, damit sie mir hilft, das herauszufinden, was ich wissen will. Ich hoffe, sie wird es verstehen, wenn es so weit ist.«
14
Callie arbeitete wie eine Verrückte, kauerte jeden Tag bis zu zehn Stunden in der schwülen Hitze, nahm Proben, bürstete, sortierte. Sie grub in dem Schlamm, der nach dem heftigen Gewitter das Feld bedeckte, und schwitzte in der brütenden Augusthitze. Abends schrieb sie Berichte, stellte Hypothesen auf, las und zeichnete eingeschweißte Artefakte, bevor sie ins Labor nach Baltimore geschickt wurden. Sie hatte in dem Haus ein eigenes Zimmer, mit einem Schlafsack auf dem Fußboden, einem Schreibtisch, den sie auf dem Flohmarkt gekauft hatte, einer Superman-Lampe, die vom Sperrmüll stammte, ihrem Laptop, ihren Noten und ihrem Cello.
Kurzum, sie hatte alles, was sie brauchte.
Da die anderen Mitglieder des Teams ihre Abende in der Stadt oder auf dem Ausgrabungsgelände verbrachten, war Callie meistens mit Jake allein in dem großen Haus. Doch sie hielt es nicht aus, mit ihm glückliche Familie zu spielen; es erinnerte sie zu sehr an die Zeit, als sie noch verheiratet gewesen waren. Deshalb hielt sie sich nur selten unten im Wohnzimmer auf.
Callie musste sich eingestehen, dass sie offensichtlich nie ganz über Jacob Graystone hinweggekommen war. Dummerweise war dieser Hurensohn ihre große Liebe. Sie hatte geahnt, dass sie früher oder später bei einer Ausgrabung wieder aufeinander treffen würden; es war unvermeidlich gewesen.
Aber sie war sich völlig sicher gewesen, dass sie mit Jake und den Gefühlen, die sie immer noch für ihn empfand, würde umgehen können. Doch dann war durch das überraschende Wiedersehen alles wieder aufgewühlt worden, und obendrein hatte Jake ihr auch noch seine Freundschaft angeboten. Seine Art von Freundschaft, dachte Callie. Sie konnte nie sicher sein, ob er im nächsten Moment sauer auf sie sein, sie küssen oder ihr den Kopf tätscheln würde, als sei sie noch ein Kind. Und trotzdem war es zwischen ihnen ganz anders als früher.
Vielleicht lag es ja an dem, was geschehen war, seit sie nach Woodsboro gekommen war. Ein einziger Augenblick konnte ein ganzes Leben verändern, das hatte sie am eigenen Leib erfahren. Wenn Jake und sie nun damals versucht hätten, miteinander zu reden, anstatt sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, sich anzuschreien und gleich von Scheidung zu sprechen? Hätten sie dann um die Ehe gekämpft, oder hätten sie sich trotzdem getrennt? Darüber konnte sie natürlich nur spekulieren, so wie sie über den Stamm spekulierte, der sich vor so langer Zeit am Antietam Creek niedergelassen hatte, oder darüber, was für einen Verlauf ihr Leben genommen hätte, wenn sie bei den Cullens aufgewachsen wäre.
Sie musste sich eingestehen, dass sie Jake nie richtig vertraut hatte. Nicht, wenn es um andere Frauen ging. Er galt als Frauenheld, das hatte sie schon gewusst, bevor sie ihn kennen lernte. Es war ihr gleichgültig gewesen, bis sie sich in ihn verliebte. Sie glaubte nicht daran, dass er sie liebte, jedenfalls nicht so, wie sie ihn. Und das hatte sie wahnsinnig gemacht. Denn je mehr sie ihn liebte, desto mehr Macht hatte er über sie. Also hatte sie ihn ständig gedrängt, ihr zu beweisen, dass er sie liebte. Und wenn ihm das nicht gelang, hatte sie noch mehr gedrängt. Aber konnte man ihr das vorwerfen? Er hatte schließlich nie den Mund aufgemacht, um ihr seine Gefühle zu gestehen. So gesehen war eben alles seine Schuld gewesen.
Callie arbeitete noch eine halbe Stunde weiter, bis ihr Magen ihr durch lautes Knurren mitteilte, dass die Portion Chili, die sie zum Abendessen in sich hineingeschlungen hatte, bereits
verdaut war. Sie blickte auf ihre Armbanduhr und lief dann die Treppe hinunter, um nachzusehen, ob sie einen geeigneten Mitternachtssnack fände.
Barfuß tappte sie in die Küche und ging zum Kühlschrank. Als sie gerade nach dem Griff fassen wollte, ging plötzlich das Licht an. Callie stieß einen leisen Schrei aus, der sofort nahtlos in einen Fluch überging.
»Verdammt noch mal, Graystone!«, fauchte sie und wirbelte zu ihm herum. »Was ist los mit dir? Warum machst du das?«
»Warum schleichst du im Dunkeln durchs Haus?«
»Ich suche etwas zu essen, und im Übrigen schleiche ich nicht, sondern ich bewege mich leise, um niemanden zu stören.«
»Nun, es ist zehn nach zwölf.« Jake blickte auf seine
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