Die Farben der Finsternis (German Edition)
nickte aufmunternd. »Weiter.«
»Nun, viel mehr kann ich Ihnen nicht erzählen. Als Rachel mir geholfen hat, ihre Sachen zu packen, fiel uns das Schließfach ein. Ich fand den Schlüssel, und als wir es aufmachten, sahen wir, dass sie mit Lippenstift etwas auf den Spiegel geschrieben hatte.«
»Was stand denn da?«
»Chaos im Dunkel«, flüsterte Amanda, als könnte der Satz ihr wehtun.
»Haben Sie das niemandem erzählt?«, fragte Cass mit ausdrucksloser Miene.
»Ehrlich gesagt«, mischte Rachel sich ein, »haben wir das für einen geschmacklosen Witz gehalten.«
»Wieso?«
»Ich arbeite für die Nachrichtenseite der Uni. Das ist eine der besten in der Stadt, eigentlich die beste, finden wir, weil wir ganz London abdecken, nicht nur South Bank. Alle kennen die Geschichte von dem Mädchen, das vor ein paar Wochen gestorben ist und diesen Satz an die Wand geschrieben hat. Und dieser Typ, der ihn seiner Mum geschickt hat. An allen Unis ist das zu einer Art urbanem Mythos geworden.«
»Man sagt, dass sich innerhalb einer Woche jeder umbringt«, sagte Amanda mit großen Augen, »der diese Worte irgendwo gesehen hat.« Sie zupfte an ihrem Taschentuch. »Ich hätte nie nach London ziehen sollen«, murmelte sie. »Ich hätte in Guildford bleiben sollen. Ich will mich nicht umbringen. Ich will nicht sterben.«
»›Man sagt.‹« Rachel verdrehte die Augen »Das sind ein paar blöde Jungen, die den Mädchen Angst machen wollen, um sie ins Bett zu kriegen. Ich habe keineswegs vor, mich in den nächsten Tagen umzubringen, genauso wenig wie du. Diese Geschichte ist kompletter Unsinn.« Ihr Grinsenerstarrte, als sie Cass noch einen Blick zuwarf. »Sind Sie etwa deswegen hier? Hat es noch mehr solche Selbstmorde gegeben?«
Ausnahmsweise fehlten Cass die Worte. Er hatte keine Sekunde daran gedacht, dass die Geschichten dieser Todesfälle sich wie stille Post unter den Studenten verbreiten würden. Während die Polizei sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, nach einer Verbindung zu suchen, hatten die jungen Leute sie gesehen und kommuniziert.
Er beachtete ihre Frage nicht. »Hat jemand nach Angies Schließfach gefragt? Studenten, die sich diesen Streich ausgedacht haben könnten?«
Rachel lächelte nicht mehr und Amanda sank noch mehr in sich zusammen, während sie die Nase hochzog. »Nein«, antwortete sie leise, »keiner hat was gesagt. Ich glaube nicht, dass es ein Witz war.«
»Steht es noch auf dem Spiegel?« Cass beugte sich vor.
»Wir haben es abgewischt«, antwortete Rachel. »Tut mir leid, wir dachten, es wäre nicht wichtig.«
»Ist es wahrscheinlich auch nicht.« Cass lächelte, aber er spürte ihren scharfen Blick. Rachel Honey war nicht dumm. »Wie verhielt es sich mit ihrem Sozialleben? Eben haben Sie gesagt, sie wäre manchmal direkt nach der Uni ausgegangen?«
»Das kam vor. Sie ging zwei- bis dreimal in der Woche weg. Am Wochenende sind wir manchmal zusammen zur Union gegangen.« Amanda drehte das Taschentuch zwischen den Fingern. Obwohl sie mit ihm redete, merkte Cass, dass sie in Gedanken bei den Worten war, die sie im Schließfach entdeckt hatte, dass sie über den neu entstandenen Mythos in dieser Stadt nachgrübelte und darüber, ob sie die Nächste sein würde. Sie verspürte keine Trauer, sondern Angst.
»Sie war eher zurückhaltend. Wir haben nicht über Männer oder so was geredet. Aber ich denke eigentlich nicht, dass sie mit jemandem zusammen war.«
»Ich glaube, sie hatte einen Job«, fiel ihr Rachel ins Wort. »Letztes Jahr hat sie irgendwo gekellnert. Sie konnte gut mit Geld umgehen. Ich meine, man erwartet das von Leuten, die Rechnungswesen studieren, aber das stimmt nicht immer.« Sie lächelte. »Ich studiere das Gleiche und mein Dispo bringt mich um.«
»Aber Sie wissen nicht, wo sie gearbeitet hat, oder?«
Die beiden jungen Mädchen schüttelten den Kopf, doch Amandas rot geweinte Augen wirkten plötzlich wacher. »Ich weiß, dass sie letztes Jahr bei Pizza Express gejobbt hat. Vielleicht hat sie ja wieder da gearbeitet. In der Filiale direkt am Fluss.«
»Danke.« Cass stand auf. »Soll ich Sie zur Uni zurückfahren?«
»Nein, wir laufen lieber«, antwortete Rachel. »Die frische Luft wird uns guttun.«
Armstrong schlug sein Notizbuch zu und steckte es ein. »Wir melden uns, falls wir noch etwas von Ihnen brauchen.«
Cass überlegte, wie lange es dauern würde, bis sich die Nachricht von der polizeilichen Wohnungsbesichtigung unter den Studenten verbreiten würde.
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