Die Farben der Finsternis (German Edition)
möglichen Antwort hatte, dass sein Sohn eventuell schon eigene Geheimnisse und ein anderes, dunkleres Leben gehabt hatte.
»Nein«, entgegnete Cass. »Wir haben keinerlei Anlass zu solchen Vermutungen. Wirklich nicht.«
Mr Denter war noch immer nicht beruhigt, und das konnte Cass gut verstehen. Niemand erwartete, dass die Polizei bei unauffälligen Selbstmorden aktiv wurde – heutzutage untersuchte die Polizei nicht mal die Hälfte der Verbrechen, für die sie zuständig war, geschweige denn minder wichtige persönliche Tragödien wie diese. Aber Mr Denter machte auch nicht den Eindruck, als wollte er sich mit der Polizei anlegen. Er war ein guter Bürger.
»Dann …« Er blieb an der Tür stehen und zuckte hilflos die Achseln, als ob seine Trauer ihn daran hinderte, einzutreten. »Es ist noch genau so, wie er es hinterlassen hat. Wir haben … nichts angerührt.«
Cass nickte. Ein Blick in dieses aufgeräumte Zimmer genügte, um sich das Leben der Denters vorzustellen. An der Wand klebten Poster von Fußballern, über dem Stuhl in der Ecke hingen Kleidungsstücke und an der hinteren Wand stand ein Skelett neben einem Schaubild der inneren Organe. Das Bett war gemacht. Daneben stand ein Schreibtisch mit einem Stapel medizinischer Fachbücher, mehreren Schnellheftern, einer kleinen Lampe und einem Stifthalter. Cory Denter war das Produkt einer fleißigen Familie, die offensichtlich jeden Penny zusammengekratzt hatte, damit der teure Sohn es einmal besser haben würde. So wie es aussah, hatte Cory das zu schätzen gewusst. Auf einem Foto war er mit seinen Eltern auf einem Schiff zu sehen, irgendwo, wo es schön war und die Sonne schien. Sie lächelten, als würde dieses Gefühl bis in alle Ewigkeit andauern. Mehr Fotos gab es nicht.
Cass öffnete behutsam Schränke und Schubladen, fand aber nichts Ungehöriges – ordentlich gefaltete Kleidung, ein Sparbuch, das bewies, wie vorsichtig der Junge mitGeld umgegangen war, Fußballsachen, Jeans und ein paar Anzüge, aber kein Tagebuch, keine Briefe von einer Freundin, überhaupt nichts Persönliches. Cass würde Cory Denter nicht mehr kennenlernen, aber er hatte das Gefühl, sie wären einander begegnet. Ein stiller Junge. Ein zurückhaltender Mann. Jemand, der sich etwas zutraute, seine Gefühle aber für sich behielt.
Cass blätterte in einigen Studienordnern, während ihm die ganze Zeit bewusst war, dass Mr Denter ihn von seinem Platz an der Tür aus genau im Auge behielt. Das linierte Papier war säuberlich beschrieben, aber soweit es Cass betraf, hätten die Notizen auch in einer Fremdsprache verfasst sein können. Hin und wieder waren Grafiken eingefügt, durchgestrichen und neu gezeichnet – hier hatte sich jemand um Perfektion bemüht. Cory Denter hatte hart gearbeitet. Hätte er sein Blut nicht flächendeckend in seinem Auto vergossen, wäre eines Tages sicher ein guter Arzt aus ihm geworden.
Als er umblätterte, erstarrte Cass’ Hand. Die nächste Seite war mit weiteren säuberlich geschriebenen Worten gefüllt, die er nicht verstand, aber ihm war etwas anderes aufgefallen. In der Ecke stand in kleinen Buchstaben ein Satz, der sich immer wiederholte, als hätte ihn jemand geistesabwesend in der Vorlesung dorthin gekritzelt. Zwischen den Buchstaben waren keine Lücken, sodass es wie ein langes unsinniges Wort aussah, das sich zum Ende der Seite hin fortsetzte:
ChaosimDunkelChaosimDunkelChaosimDunkelChaosimDunkel.
Cass’ Herz schlug so laut, dass Mr Denter es bestimmt hören konnte.
Chaos im Dunkel. Noch einer. Er klappte den Schnellhefter zu.
»Sieht so aus, als hätte Cory hart gearbeitet.« Cass hielt den Ordner in der Hand und den Ton lässig.
»Das stimmt. Er war ein guter Junge.«
»Wie war sein Sozialleben? Hatte er viele Freunde?«
»Ein paar«, antwortete Mr Denter. »Aber er hat sein Studium ernst genommen und blieb an den meisten Abenden zu Hause. Am Wochenende ging er zum Fußball oder zum Kricket. Ab und zu ging er auch unter der Woche aus, ein oder zwei Mal, aber er ist nie spät heimgekommen.«
»Wussten Sie, wohin er ging?«
»Nein. Wie gesagt, er war ein guter Junge und wir haben ihm seine Freiheiten gelassen. Schließlich kam er nicht ständig betrunken nach Hause wie manche andere.« Ein wehmütiges Lächeln zuckte über das sorgenzerfurchte Gesicht des Mannes. »Jedenfalls kam es nur selten vor.«
»Darf ich den mitnehmen?« Cass hielt den Schnellhefter hoch.
Die Angst beherrschte Mr Denters Miene. »Sie würden es mir doch
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