Die Farben der Finsternis (German Edition)
Gesundheitsversorgung kommt uns Hebammen sehr zugute. Wir können auf dem Privatsektor hohe Honorare verlangen. Niemand knausert bei seinen Babys. Schon gar nicht beim ersten«, sagte sie mit einem knappen zufriedenen Lächeln. »Darauf habe ich mich seitdem spezialisiert.«
Das fand Cass ziemlich geldgierig; es klang eher nach Kinderfängerin als nach Hebamme. Doch vielleicht brachte die Rezession alle dazu, ein wenig die Zähne zu fletschenund ihre harte Seite zu zeigen, sogar jene in den traditionell fürsorglichen Berufen.
»Sie sagten, es ginge um ein verschollenes Kind?«, fragte sie.
»Etwas in der Art, ja. Ich suche nach einem Baby, das im Portman Hospital geboren wurde, als Sie dort gearbeitet haben – vor neun Jahren.«
»Das ist lange her. Ich bezweifle, dass ich Ihnen helfen kann. Ich verstehe nicht mal, was sie mit ›etwas in der Art‹ meinen.«
Cass ignorierte die versteckte Bitte um weitere Informationen, das hatte Zeit. Er reichte der Frau ein Blatt Papier mit einer Namensliste.
»Das sind die Leute, die mit Ihnen in jener Nacht rund um die Entbindungsstation gearbeitet haben. Können Sie sich an irgendjemanden erinnern?«
Sie überflog die Liste und lachte. »Aber ja – mit denen habe ich schließlich zusammengearbeitet. Es sind die Patienten, die ich vergesse, nicht die Kollegen.«
»Ist Ihnen einer von ihnen besonders aufgefallen?«
»Inwiefern?« Ihr Blick wurde härter.
»War einer von ihnen zum Beispiel hoch verschuldet oder hatte irgendein anderes Problem, das ihn oder sie hätte zu Dummheiten verleiten können?«
»Wozu? Ein Baby zu stehlen, oder was?«, schnaubte sie verächtlich. »Unwahrscheinlich. Wir nehmen unsere Arbeit ernst. Und damals hatten wir alle Geldprobleme, erst recht, wenn man für den National Health Service gearbeitet hat. Trotzdem versichere ich Ihnen, dass keiner so weit gehen würde, ein Baby zu verkaufen oder was auch immer sie so holzhammermäßig andeuten.«
»Es tut mir leid.« Cass hob entschuldigend die Hände. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Ms Streatham. Ichmuss diese Fragen leider stellen. Ein Baby wurde in dieser Nacht von den falschen Eltern mitgenommen und ich versuche zu verstehen, wie das passieren konnte.«
»Das ist lächerlich«, protestierte sie. »Genau genommen praktisch unmöglich.«
»Zwischen ›praktisch unmöglich‹ und ›unmöglich‹ liegen Welten, Ms Streatham. Und es war tatsächlich so.« Er wartete einen Augenblick, bis die Frau sich wieder beruhigt hatte.
»Die betroffenen Eltern hießen Jessica und Christian Jones. Die Frau brachte einen Jungen zur Welt.«
»Jones?«
»Nicht verwandt«, log Cass. »Der Name ist verbreitet.«
»Zu verbreitet, sagt mir nichts. Als Hebamme hatte ich mit sehr vielen Babys zu tun und damals habe ich die Mütter vor der Geburt höchstens drei, vier Mal gesehen. Es ging eigentlich immer schnell und routinemäßig zu, und wenn es ein Problem gab, hatte ich alle Hände voll zu tun und war zu erschöpft für eine zwanglose Unterhaltung oder freundliche Bemerkungen. Wenn bei der Geburt nichts schieflief, konnte ich mich nach einem halben Jahr nicht mehr an die Gesichter erinnern und nach zehn Jahren erst recht nicht.« Sie zuckte flüchtig die Achseln. »Kann sein, dass die Welt vor dem finanziellen Ruin steht, aber das hält die Menschen nicht davon ab, Kinder zu kriegen. Wenn überhaupt, bekommen sie noch mehr.«
»Es tut mir leid, wenn ich einen wunden Punkt getroffen habe, aber verstehen Sie doch bitte, dass ich nachfragen muss.«
»Und ich entschuldige mich für meinen schroffen Ton«, sagte sie freundlicher. »Aber wissen Sie, wir haben sehr hart gearbeitet und uns wirklich bemüht, Herr der Lage zu bleiben. Sie sollten diejenigen vernehmen, die auf derPrivatstation gearbeitet haben – die haben viel mehr Fehler gemacht als wir, dabei waren ihre Schichten nur halb so lang.«
»Wie, es gab eine Privatstation?« Cass runzelte die Stirn. »Eine private Entbindungsstation?«
»Aber ja. Wussten Sie das nicht? Flush5 war der Betreiber. Es war eine ihrer ersten Stationen überhaupt. Ich glaube, inzwischen gehört ihnen das ganze Krankenhaus. Ihnen oder Der Bank, einem von beiden – ist ja eigentlich egal, denn denen gehören heutzutage fast alle Londoner Kliniken, wenn ich meinen Lohnzetteln glauben darf.«
»Vielen Dank, Ms Streatham.« Cass lächelte. »Sie haben mir sehr geholfen.«
Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, rief er Perry Jordan an. Jessica und
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