Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
auf den Steinen in der Vorhalle, und eine dröhnende Stimme ruft: »Jemand drinnen?«
Panik und heiße Scham erfassen mich, dass jemand mich hier finden könnte, wie ich mit meinem angeschwollenen Bauch vor Gott sitze. Unwillkürlich erstarre ich und halte die Luft an. Dann höre ich das scharrende Schleifgeräusch, mit dem die riesige Tür zugezogen wird. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss.
»Nein, nein! Hier ist noch jemand drin! Ich bin hier!«, rufe ich laut. Beschämt laufe ich in die Vorhalle und klopfe an die Tür. »Bitte kommen Sie zurück! Ich bin hier drin!« Aber die Schritte werden immer schwächer. Irgendwo über mir im Turm erwacht die Kirchenglocke zum Leben. Ich zähle die Schläge mit, als die Stunde geschlagen wird. Sechs Uhr! Wie kann es schon so spät sein?
Ein Pfarrer oder sonst jemand hat die Kirche für die Nacht abgesperrt, damit nichts gestohlen werden kann, genau, wie Mrs. Blight erzählt hat. Wie dumm von mir, dass ich nicht daran gedacht habe. Ich gehe zum Nordeingang, um nachzusehen, ob dieser ebenfalls verschlossen ist, und rüttle an der Tür. Ich bin eingeschlossen. Es ist hoffnungslos, denke ich und lutsche an meinen wunden Fingerknöcheln. Ich muss bis zum nächsten Morgen hierbleiben. Ich fühle mich erbärmlich und denke an Mrs. Blights besonderes Abendessen, für das sie kein Fleisch bekommen wird. Was werden sie sich denken? Die Hausgemeinschaft wird sich an den Tisch setzen und einen Toast ausbringen, aber es wird kein Fleisch geben und mein Platz am Tisch aus unerklärlichen Gründen leer bleiben. Das Haus steht so nahe bei der Kirche, und trotzdem kann ich sie nicht einmal rufen.
Anfangs fällt noch ein farbiger Lichtschein durch die bunten Kirchenfenster, aber allmählich verblasst er. Als ich Durst bekomme, trinke ich Weihwasser aus dem Taufbecken. Es schmeckt nach Stein oder nach etwas anderem, das ich nicht zuordnen kann. Vielleicht sind es die Finger der Priester, die Wasser aus dem Becken schöpfen und den Kleinkindern über den Kopf gießen, wenn sie gesegnet und getauft werden. Vielleicht würde ich mich besser fühlen, fast als würde mir vergeben, wenn ich meine Schwierigkeiten einem Pfarrer beichten könnte.
Die anderen werden inzwischen mit dem Abendessen fertig sein. Ich zittere vor Kälte, und als ich meine Röcke enger um mich ziehe, berühren meine Finger einen nassen Fleck. Ich spüre, dass sich auf der Kirchenbank eine Pfütze befindet, und dann begreife ich, dass der Saft des rohen Fleisches in meinem Korb durch das Einwickelpapier gedrungen sein muss. Beinahe lache ich laut vor Erleichterung. Mrs. Blights Fleisch tropft auf die geweihten Steinplatten.
So gut es geht, umklammere ich mit den Armen die Knie und drücke das Gesicht in die Röcke. Die Glockenschläge um drei und vier Uhr höre ich kaum, was bedeutet, dass ich ein wenig geschlafen haben muss.
* * *
Mit einem Ruck wache ich auf.
Es ist schon hell. Ich höre, wie die Tür von außen aufgeschlossen wird, und komme taumelnd auf die Füße. Ich fühle mich steif und habe ein schlechtes Gewissen. Ein Pfarrer oder Vikar betritt die Kirche und schließt schwungvoll die Tür. Er kommt den Gang entlang. Seine schwarzen Gewänder flattern beim Gehen, und er bleibt natürlich abrupt stehen, als er mich zwischen den Bankreihen entdeckt.
»Um Himmels willen, Kind!«, ruft er aus. Sein Tonfall ist trällernd. »Was tust du denn hier?«
»Ich sitze nur hier, Sir. Ich …«
»Sitzen! Warst du die ganze Nacht in der Kirche?«
»Ja. Ich … musste nachdenken.«
»Tatsächlich!«, sagt er. »Dann hast du lange nachgedacht. Ich muss leider bei Einbruch der Nacht die Kirchenportale absperren, weil es in ganz Westminster Diebstähle gab. War es kalt? Hast du auf mich gewartet? Gottes Rat lässt manchmal auf sich warten.«
Ich schüttle den Kopf, und er lächelt gütig. »Nun, mein Kind, falls du deine Meinung ändern solltest – Gott wartet geduldig auf uns.« Die Glocke gibt ein surrendes Geräusch von sich und beginnt zu läuten. »Anders als die Gemeindemitglieder! Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Aber falls du über deine Sorgen reden möchtest, findest du mich hier. Reverend Lindsay ist mein Name.«
»Danke, Reverend«, sage ich, und er verschwindet in der Sakristei. Ich frage mich, ob Gott mir wohl bereitwilliger verzeihen würde, wenn ich einem anderen Menschen gestehe, was ich getan habe. Aber er ist beschäftigt, sage ich mir. Die Stare zwitschern in den Traufen.
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