Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
nichts, denke ich, und die Leere ist so weit und grau wie ein Himmel.
Ich weiß nicht einmal, welcher Tag heute ist.
»Welcher Tag ist heute?«, flüstere ich, als Mrs. Blight mit warmem Wasser und Tüchern in die Kammer tritt. »Haben die Männer von der Kirchengemeinde mich gefunden, als ich gestürzt bin?«
Mrs. Blight drückt ein Tuch aus. Als sie von der Schüssel aufblickt, sind ihre Zähne vollständig bedeckt.
»Wer soll dich gefunden haben? Es war Mary Spurren, die dich von der Vordertreppe aufgehoben hat, als sie die Stufen fegen wollte. Halb im Delirium warst du in den letzten zwei Tagen«, sagt sie. »Hast ständig irgendwas vor dich hin gemurmelt, als wärst du besessen.« Sie kippt mich zur Seite und zieht das schmutzige Laken unter mir hervor.
»Gott allein weiß, wie ich versucht habe, den Arzt hierher zu bekommen, aber Mary Spurren war überzeugt, dass Blacklock das nicht gewollt hätte. War auch besser so, wie sich nachher herausstellte, als ich gesehen hab, was dein Problem war. Gott sei Dank, hab ich gedacht, als das Fieber endlich runterging und ich in mein eigenes Bett fallen und ein bisschen schlafen konnte.« Sie faltet ein sauberes Laken auseinander, kippt mich keuchend wieder zur Seite und breitet es unter mir aus.
* * *
Später bringt Mary Spurren mir noch mehr feuchte Tücher und eine Schüssel Wasser, als hätte man es ihr aufgetragen. Sie geht zum Fenster und schaut hinaus auf die Dächer. Ihr Kopf wirkt im Abendlicht besonders groß.
»Mr. Blacklock ist mit der Sechs-Uhr-Postkutsche aus Hertfordshire zurückgekommen«, sagt sie.
»Oh?«, erwidere ich. »Und hat er …?«
»War fast überflüssig, die Reise, hat er gesagt, weil es seiner Tante schon wieder viel besser ging, als er ankam. Und er hat gesagt, er will nicht, dass ein Arzt zu dir kommt.« Bei dem letzten Satz hat sich Mary Spurren umgedreht und mich so triumphierend angesehen, als würde sie den Verdacht hegen, ich wolle Aufmerksamkeit heischen.
»Ich weiß«, sage ich stockend. »Ich brauche keinen Arzt. Ich habe kein Fieber. Ich habe … verdorbenes Fleisch gegessen.«
»Du hast an dem Tag das Gleiche gegessen wie ich«, hält mir Mary zu Recht vor. Ich sehe verschwommen, wie sie den Kopf schüttelt. »Du wirst dich hier ein wenig härter ins Zeug legen müssen, denke ich, bevor die Woche rum ist.«
Ich sage nichts darauf. Beim Hinausgehen schlägt sie die Tür fest zu.
Draußen zwitschert ein Spatz. Vielleicht sollte ich, wenn ich mich besser fühle, gehen und immer weiter gehen, bis ich auf Hecken treffe. Was wird Mr. Blacklock von mir denken? Den Hecken bis tief ins Land hinein folgen, wie einem Führer, der die Richtung weist. Aber wie könnte ich das tun, mit dem Schandfleck von Mrs. Mellins Münzen, der meine Hände beschmutzt, und Männern der Kirchengemeinde, die mich im Namen des Gesetzes verfolgen?
»Diebin! Diebin!«, höre ich sie in meiner Vorstellung rufen. Sie sind nicht hier, jetzt.
Ich schließe die Augen.
Ich bin wie eine Frau, von der ich in der »Evening Post« gelesen habe: Sie stand auf der Brüstung der Westminster Bridge und sprang, aber auf halbem Wege wurde ihr klar, dass sie doch leben wollte. Sie starb nicht, als sie auf der eisenharten Wasseroberfläche der Themse aufschlug. Ein Fährmann zog sie aus dem Wasser, tropfnass und mit gebrochenen Beinen.
* * *
Als ich aufwache, ist Mrs. Blight wieder in meinem Zimmer und legt ein paar Dinge auf den Waschtisch. Obwohl sie direkt neben mir ist, scheint sie weit weg zu sein. Ihre Hände bewegen sich erst schnell und dann ganz langsam, wie große rote Schmetterlinge.
Ich kann nicht sprechen. Als Mrs. Blight etwas zu mir sagt, drehe ich mich zu ihr um und starre sie an, weil ich sie nicht gut verstehen kann. Sie versucht es noch mal, kommt näher, ragt riesig über mir auf und beugt sich über mich.
»Du bist ganz steif vor Angst«, sagt sie mahnend. »Das ist nicht gut für ein Mädchen in deinem Zustand. Trink das hier!« Sie hält mir eine Tasse mit einer dampfenden, bittersüßen Flüssigkeit an die Lippen, die ich gehorsam in kleinen Schlucken trinke. Warum ist sie so nett zu mir? Ich sehe sie an und nicke, aber ich habe keine Angst. Sie irrt sich, denke ich flüchtig. Das Getränk macht mich schläfrig, und meine Gedanken entgleiten mir. Unter dem Panzer, den ich um mich aufgebaut habe, bin ich nicht starr oder angespannt. Man hat mich entdeckt und den Panzer weggerissen, um zu zeigen, dass ich darunter weich und
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