Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
nur vorgestellt?
Zwar reagierte er empfindlich auf herablassende Bemerkungen, doch kam ihm Hephzibahs Hinweis, er könne vorläufig nichts Besseres tun, als nachzudenken, sehr zupass. Es galt über so vieles nachzudenken, und es freute ihn, darüber in halb beruflicher Manier sinnieren zu dürfen. Manchmal dachte er zu Hause nach, in einem Büro, das ihm in dem Zimmer von Hephzibah eingerichtet
worden war, wo sie bislang Tücher aus dem Hampstead Bazaar aufgewahrt hatte, die sie eigentlich nicht mehr haben wollte, aber auch noch nicht fortwerfen konnte. (Treslove gefiel der Gedanke, dass die Tücher den Kürzeren zogen, als Hephzibah sich zwischen ihnen und ihm entscheiden musste.) Dann wieder dachte er in der noch unfertigen Museumsbibliothek über all das nach, worüber nachgedacht werden musste – was insofern von Vorteil war, als er hier Zugang zu jüdischen Büchern besaß. Nachteilig waren das Hämmern der Zimmermannsleute und die verdächtigen Graffiti, an denen er unterwegs vorbeikam.
Letztlich aber entschied er sich für den Tücherraum. Oder er setzte sich zum Lesen auf die Dachterrasse mit Blick auf den Cricketplatz. Ließ man den Blick nach links wandern, traf er ein paar Häuser weiter auf eine Synagoge, zumindest auf ihren Vorplatz. Treslove hatte gehofft, dort bärtige Juden zu sehen, wie sie sangen und tanzten, ihre Kinder huckepack trugen, sich feierlich das Haar schnitten (das hatte er einmal in einem Dokumentarfilm gesehen) oder an einem Festtag feierlich zur Synagoge schritten, Gebetsmantel unterm Arm, den Blick zu Gott emporgerichtet. Doch schien es sich nicht um diese Art Synagoge zu handeln. Entweder sah er zu den falschen Zeiten hin, oder bei dem einzigen Menschen, der die Synagoge nutzte, handelte es sich um einen stämmigen Juden (weil er wie Chaim Topol in Anatevka aussah, wusste Treslove, dass er Jude war) mit einem großen schwarzen Motorrad. Treslove hätte nicht sagen können, ob er der Hausmeister war – dafür hatte er einen zu stolzen Gang – oder der Rabbi – bloß sah er nicht wie ein Rabbi aus. Gegen den Rabbi sprach nicht nur das Motorrad, sondern auch die Tatsache, dass er ein Palästinensertuch trug und es sich wie ein in die Schlacht ziehender Krieger um den Kopf wickelte, ehe er den Helm aufsetzte und auf seiner Maschine davonröhrte.
Tag um Tag saß Treslove auf der Dachterrasse und hielt Ausschau nach dem Juden auf dem Motorrad. Das geschah so regelmäßig,
dass der Motorradjude schließlich Tag um Tag zu Treslove hochsah. Ein funkelnder Blick nach oben, ein funkelnder Blick nach unten. Treslove wollte wissen, warum er ein Palästinensertuch trug, es nicht nur trug, sondern sich darin einwickelte, als mache das Tuch allein seine Identität aus. Und das in einer Synagoge!
Treslove gab zu, dass er sich, von Libor aufgeklärt, schon fast zwanghaft für das Palästinensertuch interessierte. Es machte ihm Angst. Mochten die Anfänge als ideale Kopfbedeckung in einem grausamen Klima noch so unschuldig gewesen sein – bestimmt war von Abraham und Moses Ähnliches getragen worden –, hatte das Tuch doch längst eine außerordentlich symbolische Bedeutung erlangt, auch wenn die PLO, wie ihm Libor erklärte, heute die geringste aller Sorgen Isrrraes sein dürfte. Wer das Tuch trug, gab ein aggressives Statement ab, von Recht oder Unrecht zunächst einmal ganz abgesehen. Für einen Palästinenser war es in Ordnung, so ein Tuch zu tragen, sagte Libor, ein Palästinenser hatte nach dem Gesetz des Leidens ein Recht auf seine Aggression. Ein Engländer aber signalisierte damit lediglich das Verlangen, sich eine fremde Problematik anzueignen, gepaart mit dem sentimentalen Wunsch nach einer Simplizität, die es so nie gegeben hatte – was jedem, der vor den Gräueln der Linken geflohen war, einen Schauder über den Rücken jagen musste. Und Treslove, auch wenn er nur aus Hampstead geflohen war, schauderte mit ihnen.
Dieser alternde Biker aber, der es kaum erwarten konnte, sich mit seinem Palästinensertuch zu vermummen, war nicht bloß einer dieser britischen Ghuls, die sich an den Leichen der Unterdrückten labten, sondern ein Jude, zudem ein Jude, der seine Heimstatt offenbar in einem jüdischen Haus des Gebets gefunden hatte. Erkläre mir das, Libor! Aber das konnte Libor nicht. »Wir sind schon ein krankes Volk geworden«, sagte er nur.
Schließlich blieb Treslove nichts weiter übrig, als Hephzibah zu fragen, dabei hatte er ihr dies eigentlich ersparen wollen.
»Ach,
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