Die Flirtfalle
elektrisches Licht brannte auch nicht. Ich dachte an Justins Geburt. Der Kreissaal war ähnlich abgedunkelt, damit die Neugeborenen durch ein grelles Licht nicht erschrecken und eine sanfte Geburt erleben. Vielleicht war der Raum hier eine Art Kreissaal für Erwachsene, die nach erfolgreicher Behandlung eine geistige Neugeburt erlebten.
„Frau Klein?“
Ich zuckte zusammen. Vertieft in Gedanken an geistige Wieder- und Neugeburten bei Menschen in erwachsenem Alter hatte ich nicht bemerkt, dass Dr. Klitzke den Raum betreten hatte. Gott im Himmel! Ich hoffte, meine Enttäuschung über Dr. Klitzkes äußere Erscheinung würde mir nicht allzu deutlich auf dem Gesicht geschrieben stehen. Schwarzer Vollbart, ovales Gesicht, Beine schlank, aber viel zu kurz, Bierbauch, breiter Oberkörper, Glatze! Ich hatte nun genug gesehen und wollte eigentlich schon weiterziehen, um Lisa zu besuchen, die ja um diese Uhrzeit Marks Bett verlassen haben dürfte.
„Frau Klein, am Anfang jeder Behandlung steht das persönliche Gespräch …“
In Gedanken war ich wieder bei Mark.
„ … deshalb ich warten werde, bis Sie sich überwunden haben.“ Doktor Klitzke sah mich geduldig an. Erst jetzt dämmerte mir, dass er vorhatte, auf meine große Beichte zu warten.
„Sie erwarten jetzt, dass ich Ihnen mein Problem offenbare, damit das Gespräch in Gang gesetzt werden kann, richtig?“
„So kann man das durchaus formulieren“, sagte mein Psychiater. „Erzählen Sie. Woran denken Sie gerade?“
„Ich denke an einen Mann, den ich neulich kennengelernt habe.“
„Ja.“
„ Mein Problem ist, dass ich mir über die ganze Situation noch etwas unsicher bin.“
„Verstehe“, sagte Doktor Klitzke und machte sich irgendwelche Notizen. „In welcher Hinsicht unsicher?“
„Ich weiß einfach nicht, ob dieser Mann mir gegenüber aufrichtig ist. Was ist, wenn er eine andere Identität hat, oder ein Doppelleben führt und mir nur etwas vorspielt?“
„Was hat Sie veranlasst zu glauben , dass dieser Mann eine andere Identität haben könnte bzw. dass er ein Doppelleben führen könnte?“, wollte Doktor Klitzke wissen.
„Eigentlich gar nichts“, sagte ich, womit ich mir sicher war, meinem Psychiater bewiesen zu haben, dass mein Erscheinen in seiner Praxis durchaus berechtigt war.
„Ihre Depressionen …“
„Hören Sie, es muss ein Missverständnis vorliegen. Ich bin nicht depressiv. Wenn überhaupt, dann werde ich manchmal von melancholischen Herbststimmungen aufgesucht. Das ist aber auch alles!“
Doktor Klitzke sah mich verständnisvoll an.
„Erzählen Sie mir mehr über ihre melancholischen Herbststimmungen“, forderte er mich auf.
„Sie kommen und gehen. Wie eigentlich alles im Leben. Der Tag kommt, abends geht er wieder. Der Hunger kommt, man nimmt Nahrung zu sich und schon geht er wieder. Man lacht und ist im nächsten Augenblick wieder ernst. Was gibt es da eigentlich zu erklären?“
„Sprechen Sie weiter“, sagte Doktor Klitzke. Vielleicht sollte ich ihm die Freude machen und zehn weitere Beispiele nennen, für Dinge, die im wirklichen Leben da draußen kommen und auch wieder gehen. Ja, warum denn nicht?
„ Der Regen kommt und geht, im Frühjahr kommen die Vögel und fliegen im Herbst wieder in den Süden, man geht aus dem Haus und kommt irgendwann abends wieder …“
„Danke, das reicht“, meinte Doktor Klitzke. Mir reichte es eigentlich auch schon. Ich schaute auf die Uhr – kurz vor zwölf. Lisa war garantiert wieder zu Hause. Ich musste dringend mit ihr reden.
„Erzählen Sie mir mehr über diesen Mann.“
„Würde ich gern, aber ich bin spät dran. Leider habe ich einen weiteren wichtigen Termin und muss jetzt los.“
Doktor Klitzke wollte unsere Sitzung noch nicht beenden. Er war ein guter Psychologe und versuchte alles, um mich zu einem erneuten Selbstgespräch zu bewegen. Er fragte, ob ich denn nachts gut schlafen könne, an welchen Tageszeiten die melancholischen Herbststimmungen besonders intensiv zu spüren wären, ob ich an Kopfschmerzen leide und so weiter und so fort.
„Lassen Sie sich einen nächsten Termin geben“, sagte er zum Abschied, aber ich dachte nicht daran.
Im Auto fielen mir plötzlich noch ganz viele Beispiele für Dinge im Leben ein, die ständig kommen und auch wieder gehen. Ich zählte sie laut auf, was mich von dem bevorstehenden Gespräch mit Lisa ablenkte und irgendwie beruhigte.
Sie saßen auf der Veranda. Lisa, Anna und Leo – der Mann, der sich
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