Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
sie sich eine zweitägige Rast, bis es dann die Mulde stromabwärts bis nach Grimma ging. Rückblickend konnte sich niemand aus der Gruppe mehr vorstellen, wie er einen solchen Gewaltmarsch bewältigt hatte. Unterwegs hatten sie nicht selten geflucht und den Himmel angefleht, es bittersten Winter werden und die Seen und Flüsse zufrieren zu lassen, damit sie über das ebene Eis gleiten und sich nicht an ihren verwachsenen schlammigen Ufern entlangkämpfen müssten.
Doch jetzt, zwei Wochen nach ihrem Aufbruch von der Saale, hatten sie endlich das Kloster Marienthron bei Grimma erreicht. Das war ein großer Vorteil, den die Anwesenheit des Kreuzritters bot: Er hatte dank verwandtschaftlicher Beziehungen dafür gesorgt, dass die immer mehr verwahrlosende Gruppe nach Wochen zum ersten Mal und für längere Zeit wieder ein Dach über dem Kopf hatte, trockenen Boden unter den Füßen und eine anständige Mahlzeit im Bauch. Auch der stündlich schwächer werdenden Lisa linderte es ein wenig ihre Qualen, dass sie immerhin in einem warmen Lager ruhen konnte und nicht gezwungen war, auf den matschigen Pfaden dieser Gegend dahinzusiechen.
Es gab kaum Hoffnung für das Mädchen, das wusste Maja.
Und wahrscheinlich gab es auch kaum Hoffnung für irgendjemand anderen aus ihrer Gruppe. Eine Befürchtung, die nicht allein Maja hatte. Auch in den Augen der jungen Leute war dies zu erkennen, aus welchen mit dem Verschwinden des Lokators und dem Tod ihres Freundes Otto alle ungetrübte Zuversicht auf ein neues Leben oder ein großes Abenteuer gewichen war. Das Leid, vor welchem sie mit diesem Marsch aus ihrem Dorf geflohen waren, es war zurück und ließ zum ersten Male auf dieser Reise das Heimweh in seinem vollen Ausmaß aufkommen.
Die beiden Jüngsten, Gustav und Fritz, scheuten sich nicht mehr zu weinen und mussten oft von Marie und Ulrich getröstet werden. Und auch Josef, der die Krankheit seiner Lisa kaum ertragen konnte, verfiel immer wieder in Tobsuchtsanfälle, bei denen er auf alles eintrat und einschlug, was ihm im Wege war, selbst auf Felsbrocken. Anna sprach kaum noch, und auch Wilhelm wurde wieder zu dem schüchternen, sich seines Stotterns schämenden jungen Mann, als der er vor einigen Monaten aus seinem Dorf aufgebrochen war. Lediglich Johann gelang es, die wachsende Hoffnungslosigkeit ab und zu zu überwinden– dank Adelheid.
Und nun waren sie in dem Zisterzienserinnenkloster angekommen. Schön war es hier, das stand außer Frage. Es war die beste Herberge, die sie auf ihrer bisherigen Reise bezogen hatten, aber dennoch verbrachten sie hier ihre traurigste Zeit. In einem eigenen Gästehaus durften sie sich einrichten, fernab von dem Leben der Schwestern, aber auch fernab von dem Leben der hier arbeitenden Laien, die sich um die Wirtschaft des Klosters kümmerten. Konrad von Tiefenbrunn wollte es so. Er wollte keine Begegnung zwischen seinen Gastgeberinnen und deren Knechten und Mägden, deshalb verbot er der Gruppe, sich irgendjemandem zu nähern oder auch nur einen Blick auf einen an diesem Ort lebenden Menschen zu werfen. Nicht einmal mit seiner Base Elisabeth, der Äbtissin, wollte er von Angesicht zu Angesicht sprechen. Niemand verstand, warum er sich so seltsam verhielt. Niemand außer Maja.
Eine sehr fürsorgliche Nonne, die vor etwa einer Stunde mit weißen, kalten Umschlägen und einer duftenden, dampfenden Hühnerbrühe zu ihnen gekommen war, um nach der kranken Lisa zu schauen, hatte der Ritter äußerst unwirsch davongejagt und dabei allen anderen den Eindruck vermittelt, vollkommen dem Jähzorn oder gar dem Wahnsinn verfallen zu sein, so unbegreiflich war dieses Verhalten.
Maja jedoch wusste, dass es nicht Jähzorn oder Wahnsinn waren, die Konrad derart brüsk handeln ließen. Nein, es war die Furcht. Er ängstigte sich ebenso sehr, wie Maja sich ängstigte, und bewies damit, dass er das Böse nicht mit Absicht an sich gezogen hatte. Es hatte ihn gesucht, gefunden und sich an ihn geheftet, so viel stand für Maja fest.
Doch was konnte man dagegen tun?
Nachdenklich machte Maja sich auf den Weg hinunter zu einem von der nahen Mulde abgeleiteten kleinen Bachlauf. Er floss unweit ihrer Herberge vorbei, welche wiederum im Schatten des mächtigen, wie eine lange, steinerne Scheune dastehenden Klosters lag. Hier hoffte sie ein besonderes Kraut zu finden: Pestwurz mit Namen. Getrocknet, pulverisiert und dann in warmem Wein verrührt getrunken, trieb es den Schweiß und damit auch die Krankheit aus. So
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