Die Frau des Praesidenten - Roman
dieser Aufwand wirkt nicht einmal mehr übertrieben. Seit demselben Datum darf meine Autokolonne in Washington auch an jeder Kreuzung durchfahren, ob bei Rot oder Grün.) Hank steigt hinter mir ein, und als Ashley ihm folgen will, sagt er zu ihr: »Tu mir den Gefallen und fahr hinten mit, okay, Ash? Wir können unser Powwow nachher im East Wing halten.«
Ashley sieht mich fragend an, und ich bin kurz davor, ihm zu widersprechen, aber da ist etwas in Hanks Tonfall, das mich davon abhält. Ich schnalle mich an und sage: »Hank, ich dachte, du seist in Ohio.«
»Das dachte ich auch.«
»Charlie geht es doch gut?«
»Dem Präsidenten geht es prima.« Hank befühlt mit der Zungenspitze einen seiner Backenzähne. Er legt immer größten Wert darauf, keine Aufregung zu zeigen, so dass diese betonte Lässigkeit eindeutig darauf schließen lässt, dass irgendetwas nicht in Ordnung sein kann. Und tatsächlich sagt er als Nächstes: »Ich hab heute Morgen einen Anruf bekommen. Sagt dir der Name Norene Davis irgendwas?«
Ich durchkämme meine Erinnerung nach dem Namen, aber das Problem ist, dass ich inzwischen nicht mehr alle Menschen kenne, die ich kenne. Oft genug kommt es mir so vor, als sei ich mit nichts anderem beschäftigt, als Leute kennenzulernen, und es kann durchaus passieren, dass ich mich bei einer Veranstaltung eine Viertelstunde lang mit jemandem unterhalte oder sogar ein ganzes Abendessen neben jemandem zubringe und nett mit ihm oder ihr plaudere, ohne mich später im mindestendaran zu erinnern. Manchmal tritt auf einer Feier so ein Jemand auf mich zu und sagt: »Das Foto von Ihnen und mir auf unserem Bankett im letzten Frühjahr hüte ich wie meinen Augapfel«, oder »Meine Frau und ich reden noch oft darüber, wie wir Ihnen bei der Republican Convention ’96 begegnet sind«, und ich nicke freundlich dazu. Hin und wieder fördern die Hinweise schemenhafte Gedächtnisfetzen zutage – ja, ich
habe
diesen Menschen schon einmal gesehen –, aber selbst wäre ich nie darauf gekommen, und ich würde es in dem Moment eher fertigbringen, mich freischwebend in die Luft zu erheben, als mich an den dazugehörigen Namen zu erinnern. »Ich verbinde nichts mit dem Namen, aber es wäre schon möglich, dass ich sie kenne«, sage ich.
Hank räuspert sich. »Sie behauptet, du hättest im Oktober ’63 eine Abtreibung vornehmen lassen.«
Ich schnappe nach Luft; das Geräusch heftig eingesogenen Atems dringt mir ins Bewusstsein, noch bevor ich begreife, dass es von mir stammt.
Erwarte das Unerwartete
ist ein abgedroschener, aber doch passender Leitsatz für das Leben im Weißen Haus, aber darauf war ich trotzdem nicht gefasst. Es hat Zeiten gegeben, in denen ich halbwegs damit rechnete: als Charlie zum ersten Mal als Gouverneur kandidierte, und dann noch einmal vor der Präsidentschaftswahl. Ich sorgte mich mehr um den Schaden, den die Enthüllung für Charlie als Kandidaten anrichten könnte, als um die Verletzung meiner Privatsphäre, auch wenn mich beides nicht kaltließ. Aber was damals hätte geschehen können, geschah nicht, und es erschien mir offensichtlich, dass das Zerstörungspotential des Geheimnisses eher ab- als zunehmen würde. Wenn jemand vorgehabt hatte, mich bloßzustellen – wenn Dena darauf aus war, mich preiszugeben –, dann hätte es damals geschehen müssen. Also hatte ich diese eine Sorge inzwischen begraben – ich habe immer noch genug andere.
»Fällt dir irgendetwas dazu ein, warum Ms. Davis so was behaupten könnte?«, fragt Hank in einem betont neutralen Tonfall. Keiner der anderen Autoinsassen lässt eine Reaktion erkennen, weder Cal auf dem Beifahrersitz noch Walter, einanderer Leibwächter, der am Steuer sitzt. (Cal, der unter meinen Leibwächtern die Führungsrolle übernommen hat, war früher Footballspieler an der ASU, und Walter ist Vater von Zwillingen. Weil sie viel zu viel über uns wissen, bemühen Charlie und ich uns, auch unsere Leibwächter ein bisschen kennenzulernen, und Charlie hat vielen ihrer Familienmitglieder persönlich das Oval Office gezeigt.) Ich kann von Walter nur den Hinterkopf sehen und ein Stück von Cals Profil, aber ich bin sicher, dass sie zuhören und dass sie weder während dieser Fahrt noch im Weißen Haus irgendetwas dazu sagen werden. Sie sprechen nur selten ungefragt, es sei denn, es geht um Sicherheitsbelange. Manchmal höre ich bei einem Bad in der Menge plötzlich ihre leise Stimme neben mir, ohne dass ich gemerkt hätte, wie sie an meiner Seite
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