Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
setzte sich auf und blickte auf Thiderich und Albert. Beide hatten die Augen noch immer geschlossen. Mit Blick auf die Männer fragte er: »Gibt es eine Veränderung? Waren sie schon wach?«
»Nein, wach waren sie beide noch nicht. Doch die Wunde an seinem Bein sieht besser aus. Der rote Rand um den Schnitt herum ist blasser geworden. Seht her.«
Sie hob die dunkle matschige Paste an, die auf Thiderichs Bein lag. Auch wenn das nicht der Anblick war, den Walther am Morgen gut ertragen konnte, freute er sich dennoch zu sehen, dass der Schnitt tatsächlich zu heilen begann.
Dann wandte die Alte sich Albert zu. »Ihm allerdings geht es noch immer nicht besser. Das Fieber will nicht sinken. Manchmal öffnet er die Augen, doch er reagiert nicht auf meine Worte. Seine Augen glänzen, und sein Kopf ist heiß. Noch kann ich nicht sagen, ob er es schaffen wird.«
Walther nickte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Um nicht nur untätig herumzuhocken, stand er auf und ging aus der Hütte. Es war bewölkt und windig, doch es regnete und schneite nicht. Walther ging zu Millie und dem Rappen, die immer irgendwo um die Hütte herumstanden und die kargen Grasbüschel abrupften. Als Millie Walther sah, kam sie zutraulich auf ihn zugelaufen. Mit einem schiefen Grinsen dachte er, dass diese verrückte Mähre wirklich etwas Besonderes war – er konnte verstehen, warum Thiderich so an ihr hing. Kurz darauf riss er eine Handvoll des harten Grases ab, knickte es in der Mitte und begann damit ihr Fell zu striegeln. Millie schien das zu genießen, denn sie drehte ihren Hintern gegen die Böen und blieb dann brav stehen.
Die losen Haare ihres helleren Winterfells wurden von dem Wind der See fortgetragen und brachten das kurze, dunklere Fell des Frühjahres zum Vorschein. Bald würden die langen Haare gänzlich verschwunden sein – dann kam die grüne Jahreszeit.
Der Alltag im Kloster war eintönig, doch Ragnhild lebte sich irgendwie ein. Sie musste sich eingestehen, dass ihr Bild von den Beginen-Schwestern und dem Leben im Kloster weit schlechter gewesen war, als es die Wirklichkeit sie nun lehrte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie nicht fremdbestimmt durch die Hand eines Mannes. Dieses Gefühl war ihr neu, und sie wusste noch nicht, ob es sie freute oder ängstigte; doch eines war klar, sie würde sich auch daran gewöhnen müssen.
Die Beginen-Schwestern konnten das Kloster jederzeit wieder verlassen. Als Witwen oder unverheiratete Frauen und Mädchen entschieden sie eigenständig und ohne Zwang, ob sie ihr Leben Gott auf diese Weise widmen wollten. So waren sie allesamt zufrieden mit ihrem Schicksal und wirkten, zu Ragnhilds Erstaunen, sogar glücklich. Ihre täglichen Arbeiten konzentrierten sich auf die Pflege von alten oder kranken Menschen innerhalb und außerhalb der Klostermauern, der Arbeit im Klostergarten, das Schaffen von Handarbeiten und natürlich dem mehrmals täglichen Gebet im Kloster oder in der Kirche St. Jacobi.
Ragnhild hätte all das gut ertragen können und sich ihrem Schicksal sicher bald ergeben, wenn es da nicht diese eine Schwester gegeben hätte, die ihr das Leben vom ersten Tag an schwer machte. Ingrid von Horborg!
Ingrid ließ absolut keine Gelegenheit aus, um Ragnhild zu demütigen. Mal verschmutzte sie ihre Beginen-Tracht, dann zerstörte sie heimlich eine Handarbeit oder riss gerade gepflanzte Setzlinge des Nachts aus dem Beet. Bisher waren es nur Kleinigkeiten gewesen, die sich ausschließlich im Verborgenen abgespielt hatten, doch Ragnhild wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Begine die Möglichkeit zu richtiger Rache bekam. Ingrids Verbitterung wegen ihrer Vergangenheit war groß, und Ragnhild war ihr schutzlos ausgeliefert. Mit den vielen Jahren, die Ingrid bereits im Kloster wohnte, war sie ihrer Feindin in gewisser Weise überstellt, was eine weitere Gefahr bedeutete. Ragnhild beschloss, ihr einfach, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen.
Auch wenn es offiziell keine Hierarchie bei den Beginen gab, stellte die Magistra, unter deren Obhut die Schwestern lebten, die einzige Frau im Kloster mit gehobener Stellung dar. Sie war eine angenehme Person; steinalt, ruhig und freundlich. Doch auch sie konnte Ragnhild nicht vor Ingrid schützen. Durch ihr hohes Alter bedingt, übertrug die Magistra immer mehr ihrer Aufgaben an andere, jüngere Schwestern. So auch das Einführen der Neuzugänge – Neuzugänge wie Ragnhild.
Natürlich verstand es Ingrid geschickt, diese
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