Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
ihr Kloster lag. Stumm wünschten sie sich eine gute Nacht und zogen sich in ihre schmucklosen Kammern zurück.
Als Runa am nächsten Morgen erwachte, konnte sie ihre innere Unruhe kaum mehr beherrschen, doch bevor sie sich heute Abend mit Johann treffen konnte, musste sie ihre Arbeiten verrichten.
Beschwingt machte sie sich auf den Weg zur Gröningerstraße auf der Grimm-Insel. Hierher kam sie seit einem Jahr fast täglich, um eine steinalte Frau zu versorgen, die nicht mehr sprechen noch aufstehen konnte. Sie mochte diese Besuche sehr – vielleicht gerade weil die Dame nicht sprach. Hier konnte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen und musste nicht befürchten, bei ihren Tagträumereien erwischt zu werden.
»Guten Tag, Schwester Runa. Ich habe schon auf Euch gewartet«, begrüßte sie die Hausherrin bereits an der Tür. Sie trug einen Korb bei sich und schien in Eile zu sein.
»Guten Morgen, Domina Remburgis. Bin ich etwa so spät dran heute? Bitte verzeiht«, entschuldigte sich Runa erstaunt.
»Nein, nein, Ihr seid nicht zu spät. Ich wollte das Haus nur nicht vor Eurem Eintreffen verlassen. Ihr werdet heute mit Mutter allein sein, denn ich muss ein paar Besorgungen tätigen. Kommt Ihr zurecht?«
»Aber natürlich; sorgt Euch nicht, Domina Remburgis. Eure Frau Mutter und ich werden wie immer prächtig miteinander auskommen.«
Die Ratsherrnfrau rief noch einen Dank zum Abschied und winkte der Begine zu, die sie mittlerweile so gut kannte, dass sie ihr das Haus ohne Bedenken überließ.
Runa ging nach oben und klopfte an die Tür der alten Dame. Obwohl diese sie nicht hereinbitten konnte, tat Runa es dennoch, um die Alte nicht zu erschrecken.
»Guten Morgen, Mütterchen. Habt Ihr gut geschlafen? Es ist ganz wunderbares Wetter draußen. Fast schon ein wenig zu warm«, plauderte sie, während sie die Läden des Fensters öffnete.
Die Alte blinzelte dem Sonnenlicht entgegen, zeigte jedoch sonst keine Regung. Wie immer stand der Krug mit Wasser schon bereit, und auch ein Haufen Leinen lag ordentlich gefaltet neben der Bettstatt. Das Mütterchen, wie Runa die Dame stets nannte, sollte tatsächlich weit über siebzig Jahre alt sein, doch das konnte sie sich nur schwerlich vorstellen. Mit sanften Bewegungen entkleidete sie die alte Dame, deren Finger bereits steif und krumm waren. Ihr Gesicht zeigte sich von unzähligen Falten durchzogen, und auch jeder andere Teil ihres Körpers war runzlig. Dennoch fühlte sich ihre Haut samtweich an.
Runa war jedes Mal aufs Neue fasziniert von Gottes Schöpfung. Noch war ihr eigener Körper straff, doch irgendwann würde er ähnlich aussehen. Der Gedanke schreckte sie nicht – wie könnte er, schließlich hatte auch Johann schon ein paar Falten. Sie liebte jede einzelne.
Während sie behutsam die schlaffen Körperteile des Mütterchens wusch, flohen ihre Gedanken zu ihrem Geliebten. Sofort stieg ein Kribbeln in ihr auf. Sie war allein und unbeobachtet, niemand konnte ihr strahlendes Lächeln sehen.
Vor einem Jahr hatte es begonnen, schleichend und unschuldig. Weil diese Verbindung so verboten wie undenkbar war, diente ihnen der Umstand selbst als Tarnung. Niemand hätte je vermutet, dass Johann Schinkel, Mitglied des Domkapitels und ratsherrlicher Kopf des Obrigkeit Hamburgs, jemals Gefallen an einer Frau finden würde – und schon gar nicht an einer einfachen Beginen-Schwester, die zudem vom Alter her seine Tochter hätte sein können. Nicht einmal Runa und Johann selbst hätten das für möglich gehalten und wurden ebenso davon überrascht.
»Ich habe jemanden kennengelernt, Mütterchen«, begann Runa plötzlich zu erzählen. Sie wusste nicht, warum sie es tat, schließlich hatte sie der alten Dame noch niemals etwas erzählt, doch sie konnte es plötzlich nicht mehr unterlassen. Bis zum heutigen Tage wusste niemand von ihr und Johann. Wem hätte sie dieses unglaubliche Geheimnis auch anvertrauen können? Doch Runa musste ihr Herz einfach erleichtern. Der Drang, ihr großes Glück auszusprechen, war zu übermächtig, und heute, da sie und die Alte ganz allein in diesem großen Haus waren, tat sie es einfach. Das Mütterchen würde ganz sicher nichts verraten.
»Er heißt Johann. Ich sah ihn das erste Mal auf meinem regelmäßigen Wege zum Heiligen-Geist-Hospital, als ich auf dem Weg zur Pflege der Notleidenden und Alten war. Ich erinnere mich noch gut, er war stets so kostbar gekleidet und zeigte sich immer mit aufrechtem Gang. Sein Haar ist fast ebenso blond wie
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