Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Lungen fühlten sich an, als dürften sie das erste Mal Luft einziehen, und sein Herz schlug so kräftig, als schlüge es das erste Mal. Wie ein Verdurstender, der endlich einen Becher Wasser bekam, umarmte er Runa, nach der es ihn schon so lange dürstete. Seine Nase sog ihren Duft ein, und sein Körper schien zu brennen an all jenen Stellen, wo seine Haut die ihre berührte. Er schloss die Augen und küsste ihre Stirn – leicht, so leicht, dass sie es fast nicht bemerkte; aber eben nur fast!
Ruckartig löste sich Runa aus Walthers Umarmung und blickte ihn fragend an. Hatte er sie tatsächlich geküsst, oder spielte ihr die Trauer um Alheidis einen Streich?
Plötzliche Schritte durchschnitten den Moment. Noch immer blickten sie einander an. Walther wusste, dass er sich verraten hatte. Es hatte ihn einfach überkommen, und es war ihm unmöglich gewesen, es zu verhindern. Also blickte er ihr direkt in die Augen und nickte, um zu bestätigen, was sie ihn stumm fragte. Runas Gesicht war rot geweint, ihre Augen geschwollen, doch nie zuvor hatte sie schöner für ihn ausgesehen.
Dann trat Albert aus der Tür. Er bemerkte nicht, was in diesem Moment zwischen seinem Freund und seiner Tochter passiert war. Zu groß war seine eigene Trauer und zu stark sein Vertrauen in Runa und Walther. Gemeinsam verbrachten sie noch einige Zeit. Auch Margareta, Thiderich und Ava kamen irgendwann hinzu und erzählten Runa, was sich in der Nacht zugetragen hatte.
Runa war froh, nun endlich zwei Frauen um sich zu haben. Jetzt konnte sie all jene Fragen stellen, die ihr die Männer niemals hätten beantworten können. Unter Tränen erzählten Ava und Margareta so lange von der grausamen Nacht, bis Runa alles wusste.
So gerne sie auch bei ihrem Vater und ihrer Halbschwester geblieben wäre, um ihnen beiden eine Stütze zu sein, sie musste wieder gehen. Viele Kranke und Alte warteten noch auf sie, und außerdem war es den Beginen-Schwestern strengstens und unter Androhung harter Strafen untersagt, dem Kloster ohne ausdrückliche Erlaubnis über Nacht fernzubleiben. Vielleicht hätte sie aufgrund der neuen Situation sogar die Erlaubnis bekommen, aber sie wollte ihr ohnehin schon angespanntes Verhältnis zur Magistra nicht weiter belasten.
Bis sie schlussendlich gehen musste, vermied Runa es erfolgreich, Walther direkt anzublicken, doch nachdem sie das Haus verlassen hatte, ging ihr der Moment in der Diele des Hauses nicht mehr aus dem Kopf. Walther hatte sie geküsst. Er war wie ein Bruder für sie. Sie war verwirrt und fühlte sich von der Trauer um Alheidis geschwächt. Noch immer war ihr unwohl im Bauch, und auf dem Weg zu ihrem weiteren Tagwerk wünschte sie sich sehnlich, dass die Stunden bis zum Abend schnellstmöglich vorüber sein mögen. Doch der Tag zog sich hin wie zähes Baumharz. Ein jeder Krankenbesuch schien heute so unendlich viel anstrengender zu sein, als sie es sonst waren. Am liebsten hätte Runa sich verkrochen, doch die Alten und Schwachen brauchten ihre Pflege natürlich an jedem Tag – auch dann, wenn jemand in der eigenen Familie starb.
Immer wieder übermannte sie die Trauer um Alheidis, und die Tränen liefen wie von selbst. Runa nahm sich fest vor, Ingrid wenigstens um die Erlaubnis zur nächtlichen Totenwache ihrer Stiefmutter zu bitten.
Als die Arbeit endlich getan war, fühlte Runa sich unglaublich erschöpft. Sie sehnte sich nach Anlehnung, Verständnis und Ruhe. Ihre Gedanken galten Johann.
Auch wenn sie ihm erst gestern gesagt hatte, dass ihre Treffen ein Ende haben mussten und sie heute Morgen auch noch überzeugt von dem gewesen war, was sie von ihm verlangt hatte, zog es sie jetzt wie an einem unsichtbaren Band zu dem kleinen windschiefen Haus. Kein einziges Mal hatten sie sich dort ohne vorherige Absprache getroffen, doch so unwahrscheinlich es auch schien, Johann jetzt dort anzutreffen, Runa ging trotzdem hin. Schon das Haus an sich, der holzige Geruch und ihre wohligen Erinnerungen, würden ihr das Herz wärmen.
Als sie eintrat, konnte sie es tatsächlich sofort fühlen. Das Haus gab ihr Kraft. Sie beruhigte sich, ihr Herz schlug ruhiger.
»Ich habe es schon gehört, Runa«, sprach die von ihr so geliebte Stimme plötzlich.
Runa drehte sich um und sah in sein Gesicht. »Du bist hier? Wie kann das sein? Woher wusstest du …«
Die beiden Verliebten schlossen sich stürmisch in die Arme. Tröstende Küsse bedeckten das Gesicht der Begine, und ihre Hände griffen hastig nach dem, was sie von
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