Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
als das nackte Überleben.
Einige Bürger von reichen Hamburger Familien mit großem Stammbaum konnten auf eine weit verstreute Sippe zurückgreifen. Nahe und entfernte Verwandte erinnerten sich ihrer Bande und gewährten den Heimatlosen Obdach. Andere Glückliche kamen auf den umliegenden Bauernhöfen unter oder flüchteten in die nahe liegenden Klöster. Ärmere Bürger, Zugewanderte, Alte, Kranke, Verletzte oder Kinderlose hatten nicht so viel Glück. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Witwen anrüchige Dienste anboten und Männer einander für einen trockenen Kanten Brot abstachen. Wahrhaft Verzweifelte gingen mit der Hoffnung auf Nahrung sogar in das Hospital St. Georg zu den Aussätzigen und holten sich dort den Tod. Die anfängliche Freude darüber, dem Inferno entkommen zu sein, wandelte sich schon bald in einen sehr zweifelhaften Segen.
Mit den Häusern waren nicht nur die Vorräte verbrannt, sondern ebenso die Handelswaren wie Getreide, Tuche, Gewürze und Holz. Wer einst ein angesehener Bürger mit beachtlichem Reichtum gewesen war, konnte nach dem Brand zu den Ärmsten zählen.
Der Handel kam fast gänzlich zum Erliegen. Auftragsbücher waren verbrannt, Münzen geschmolzen und manch kluger Kopf gestorben. Häufig gab es niemanden mehr, der nachträglich in Hamburg eintreffende Waren noch entgegennehmen oder bezahlen konnte, geschweige denn jemanden, der noch eine Übersicht über die Lieferungen hatte. Selbst wenn der Empfänger einer Schiffs- oder Wagenladung noch am Leben war, konnte es sein, dass er nicht dort anzutreffen war, wo noch vor dem Brand sein Kaufmannshaus gestanden hatte. Dieser Umstand lockte Betrüger und Diebe an, die bald ungehindert ihr Unwesen trieben. Dies wiederum führte zu heftigen Unruhen, und es dauerte nicht lange, da machten die Bürger ihren Unmut über die Umstände Luft.
Sie wollten einen Schuldigen für ihr Schicksal. Jemanden, den sie verantwortlich machen konnten. Verschiedene Stimmen über eine Strafe Gottes wurden laut. Die tiefgläubigen Bürger und Bürgerinnen Hamburgs teilten sich schnell in zwei Lager. Eine Seite vertrat die Meinung, dass das Feuer eine Strafe für ihre Missetaten war, und forderte Buße der Sünder. Bald darauf wurde die Unberührtheit etlicher Jungfern angezweifelt, und Frauen mit roten Haaren oder auffälligen Malen auf der Haut sollten durch die eigentlich vor fast dreißig Jahren abgeschafften Gottesurteile beweisen, dass sie das Feuer nicht mittels Zauberkunst gelegt hatten. Die zweite Gruppierung wiederum deutete die Unversehrtheit des Doms als zusagendes Zeichen des Herrn. Er hatte sich nicht von ihnen abgewandt, sondern war mitten unter ihnen. Das alte Gesicht der Stadt hatte bloß sein Missfallen erregt, und nun sollten sie, als seine Diener, eine neue und schönere Stadt zu seinen Ehren errichten.
Um die feindseligen Lager dieser gegenläufigen Meinungen in der Stadt nicht anwachsen zu lassen und um den Aufbau der Stadt voranzutreiben, wurden das Vogtgericht und der Rat wieder behelfsmäßig aufgestellt. Sofort gab es für die Männer viel zu tun. Grundstücksgrenzen waren durch das Feuer verwischt, und Erbschaftsansprüche mussten geklärt werden.
Erst als fast jeder verbliebene Bürger vor dem Rat oder dem Gericht gesprochen hatte und alle Zerstrittenen sich einigermaßen einigen konnten, begann der Wiederaufbau der Stadt in kleinen Schritten.
Trotz der ganzen Not musste das Leben weitergehen. Alle wussten, dass die Stadt wieder aufgebaut werden würde; so wie es immer geschah, nachdem eine Stadt niedergebrannt war.
Auch Albert hatte so gut wie alles verloren. Sein Haus war nicht mehr als ein Aschehaufen und seine Handelswaren – das friesische Holz – komplett verbrannt. Alles, was er in den letzten Jahren aus dem Nichts erschaffen hatte, war in einer einzigen Nacht verschwunden. Doch er lebte. Und auch Ragnhilds Leben hatte er beschützen können.
Kurze Zeit, nachdem er sie und sich selbst aus den Flammen gerettet hatte, waren sie losgezogen, um nach Runa und Walther zu suchen. Da beide einigermaßen wohlauf gewesen waren, als Albert sie in der Niedernstraße zurückgelassen hatte, um Ragnhild zu holen, ging er davon aus, dass sie es auch geschafft hatten, sich bis in den nahe gelegenen Wald zu retten. Albert sollte recht behalten. Sichtlich erschöpft, aber unverletzt fanden Albert und Ragnhild ihre gemeinsame Tochter und Walther unweit des Stadttores der Niedernstraße.
Der Schreck saß allen noch in den
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