Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Wut auf die wilde See. Oder Wut auf Conrad, dessentwegen er ja schließlich auf diesem Höllenschiff weilte. Aber solche Gedanken überstiegen derzeit einfach seine Kräfte. Kaum waren die Männer hinter ihm vorbeigegangen, wurde das Schiff erneut von einer mächtigen Welle erfasst. Diese Bewegung war mehr als ausreichend für Albert, um wieder zu würgen. Wieso hatten ihn die Wellen als kleiner Junge nicht gekümmert? Niemals war er damals seekrank gewesen. Warum musste er sich heute, da er ein gestandener Mann war, wie ein Weib über die Reling hängen, um sich nicht selbst zu besudeln? Vielleicht war es Glück im Unglück, dass er nach einem weiteren Tag der Seekrankheit über nahezu jegliches Gefühl der Scham erhaben war und immer dann, wenn keiner zu sehen war, hemmungslos und selbstmitleidig heulte. In gewisser Weise fühlte er sich danach etwas erleichtert.
Das Tageslicht hinter den bleigrauen Wolken war fast vollständig verschwunden, als Albert, der mittlerweile vor Kälte zitterte, an der Schulter berührt wurde. Es war Arnoldus. Er war allein, und er hielt einen Kanten Brot in der Hand. »Wenn Ihr das esst, bleibt es sicher drin. Brot ist in Eurem Zustand das Beste.« Der Schiffer hielt ihm den Kanten entgegen und lächelte ihm aufmunternd zu. Für einen kurzen Moment sagte keiner ein Wort.
Albert verspürte nicht den geringsten Hunger. Im Gegenteil, er hatte wahrhaft Angst davor, im nächsten Moment auf das Brot und somit auf die Hand des lächelnden Arnoldus zu kotzen. Doch andererseits war er dankbar für die freundliche Geste des Schiffsherrn. So nahm er den Kanten entgegen und bedankte sich mit einem knappen Kopfnicken. Genauso schnell, wie der Seemann gekommen war, war er auch wieder verschwunden. Kein Mann der vielen Worte, dachte Albert. Gott sei Dank, denn eine Unterhaltung wäre das Letzte gewesen, worauf er Lust gehabt hätte.
Lange Zeit nachdem der Schiffsherr gegangen war, beschloss Albert, unter Deck zu gehen und sich schlafen zu legen. Sein Magen hatte sich etwas beruhigt, und er war durchgefroren bis auf die Knochen. Erst jetzt bemerkte er, dass seine eiskalte Rechte noch immer das Brot umklammerte. Wäre es ein frisches Brot gewesen, so hätte das Zittern seines Körpers es sicher bereits in tausend Krümel verwandelt, doch es war, wie alle Nahrung an Bord, alt und hart genug, um jemanden damit zu erschlagen.
Im Bauch des Schiffs angekommen, fiel er wie tot in seine Hängematte. Was hätte er in diesem Moment gegeben, um mit dem Schiffsherrn zu tauschen und eine eigene Kajüte zu haben? Ein Bein? Einen Arm? Wahrscheinlich noch mehr, doch trotz seiner Herkunft als Kaufmann, durch die er weit über den Schiffsleuten stand, bot die Resens keinen Platz für derlei Überfluss. So legte er sich zwischen die stinkenden Körper der rauen Männer, immer in der Hoffnung, von den üblen Gerüchen endlich in eine Art Ohnmacht zu fallen. Noch während er darüber nachdachte, warum eigentlich alle Seeleute nachts so furchtbar laut schnarchen und furzen mussten, schlief er ein.
Nach dem fünften Tag auf rauer See setzte der Regen ein. Albert war mittlerweile heilfroh, seine Übelkeit seit vorgestern und somit auch noch vor dem Regen ausgelebt zu haben. Das hätte ihm noch gefehlt. Im Regen kotzen. Er konnte sich nun wahrlich nicht mehr vorstellen, was ihn an dem Geschaukel so sehr gestört hatte, und fühlte sich, als wäre er auf dem Schiff geboren. Obwohl ihm die Seeleute prophezeit hatten, dass es ihm nach vier Tagen wieder gutgehen würde, hatte er ihnen einfach keinen Glauben schenken können; bis heute. Er war mehr als dankbar, dass sie recht behalten hatten.
Als hochrangiger Fahrgast war er von jeder körperlichen Arbeit befreit. Doch dieses Privileg war, wie sich herausstellte, nicht grundsätzlich wünschenswert. In so manchen Momenten sehnte er sich regelrecht danach, eine Aufgabe zu haben, denn die Langeweile an Bord war zeitweise unerträglich. Der Regen tat das Übrige, indem er Albert unter Deck einschloss. So verbrachte er mehr und mehr Zeit damit, die Strukturen an Bord zu studieren.
Mit ihm waren acht Leute an Bord. Die Seeleute gehörten zu Arnoldus’ festem Stamm. Obwohl sie auch auf anderen Schiffen anheuern durften, fuhren sie so gut wie nur mit ihm auf See. Arnoldus’ Aufgabe war es, seine Untergebenen zu führen, sie zu schützen und sie mit Nahrung zu versorgen. Im Gegenzug mussten die Männer seinen Befehlen blind Folge leisten und bekamen von ihm ihren Lohn.
Es gab
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