Die Frau ohne Gesicht
was sie von ihnen zu erwarten hatte. Aber Arthur Fried war aus einem anderen Holz geschnitzt. »Er ist von der gleichen Art wie Kazis Vanags und Olafs Jansons. Kein Verbrecher wie die beiden, aber innendrin genauso leer. Er ist nie ein Mensch geworden. Irgendetwas Wichtiges fehlt ihm. Er ist so ein Tier wie die beiden. Eine Bestie.«
»Was hast du jetzt vor, Elza? Hier kannst du nicht bleiben, nachdem alle das Video gesehen haben. Die Medien und die Polizei machen Jagd auf dich«, sagte Lia besorgt.
Elza sagte, sie habe nicht vor, zu bleiben. Sie werde nach Kanada ziehen. Mari habe ihr einen neuen falschen Pass auf einen anderen Namen besorgt.
»In Kanada kann ich neu anfangen. Ausma kommt mit, sie hat auch schon einen neuen Pass. Sie soll sich in aller Ruhe überlegen, was sie tun will. Wir können es uns leisten.«
Lia wollte wissen, wie Elza an Geld gekommen war.
»Deine Freundin ist nicht kleinlich. Ich hätte es auch umsonst getan, aber Mari wollte mich bezahlen. Ich brauchte Geld, sie brauchte das Video. Alle profitieren.«
Meine Freundin. Alle profitieren.
Elza sagte, am nächsten Tag sei sie unter dieser Nummer nicht mehr zu erreichen.
»Ich brauche sie nicht mehr, und in Kanada muss ich sowieso einen neuen Anschluss haben. Deine Freundin hat sich schon darum gekümmert.«
Meine Freundin hat sich schon darum gekümmert.
49.
Am nächsten Morgen berief Tom Gallagher, der Parteisekretär der Fair Rule, eine Pressekonferenz ein. Es ging um ein einziges Thema: Gallagher erklärte, die Mitarbeiter des Parteibüros seien nicht mehr bereit, unter Arthur Fried zu arbeiten.
»Der Ruf der Partei hat in den letzten Monaten so sehr gelitten, dass es harte Arbeit war, ihn zu retten. Nach den gestrigen Nachrichten ist dies nicht mehr möglich«, stellte Gallagher fest.
Fried war immer noch Parteivorsitzender, denn er konnte nur in der offiziellen Parteiversammlung abgesetzt werden. Aber die Botschaft war eindeutig: Die Mitarbeiter der Partei standen nicht mehr hinter ihm.
Eine Stunde nach der Pressekonferenz teilte Gallagher in einem Fax an die Presse mit, Arthur Fried habe telefonisch seinen sofortigen Rücktritt erklärt.
»Die gestrigen Nachrichten und das aufsehenerregende Video waren nicht Gegenstand des Gesprächs«, schrieb Gallagher.
Aus diesem Satz schloss man allgemein, dass es im Gespräch genau darum gegangen war, dass man aber nicht öffentlich machen wollte, was dazu gesagt worden war.
Auf der Website von The Wall fand das Video immer noch Zuschauer. Den Zeitungsartikeln zufolge glaubte niemand mehr an ein Comeback für Arthur Fried.
Die Polizei teilte mit, die Frau, die auf dem Video gesprochen habe, sei nicht gefunden worden. Im Zuge der Ermittlungen habe man Fried zur Vernehmung holen wollen, ihn jedoch nicht angetroffen.
Gegen Mittag ging Lia ins Studio. Sie warf zuerst einen Blick in die Werkstatt und die anderen Räume, fand dort aber niemanden. Dass Mari anwesend war, wusste sie.
»Hallo«, sagte Lia, als sie Maris Zimmer betrat.
»Grüß dich«, antwortete Mari erfreut.
Lia ging schnurstracks zu einem der Sofas. Ihre letzte Begegnung schien weit zurückzuliegen. Die Weihnachtsfeier in Lias Wohnung, danach die kurze Besprechung im Studio, nachdem Arthur Fried Sarah Hawkins eingeschüchtert hatte.
»Erklär mir, warum Fried nicht an die Öffentlichkeit geht«, forderte Lia.
Die Antwort kam blitzschnell.
»Weil er nicht weiß, was er sagen soll. Er wagt es nicht abzustreiten, dass er eine Prostituierte namens Daiga V ī tola geschlagen hat, weil er in seinem Leben schon viele Prostituierte verprügelt hat. Er erinnert sich nicht an alle und kennt ihre Namen nicht. Wenn er es bestreitet und doch irgendwo ein Beweis auftaucht, kann er wegen Körperverletzung vor Gericht kommen. Und die Wahrheit kann er auch nicht sagen. Was klingt schlimmer als ›Ich glaube nicht, dass ich diese Frau misshandelt habe‹?«
Lia nickte.
»Du hast den anderen freigegeben, da der Fall Fried erledigt ist«, stellte sie mehr fest, als sie fragte.
Mari verengte die Augen.
»Dazu brauchen sie mich nicht. Maggie, Rico und die anderen wissen selbst, wann sie freie Tage nehmen und wann sie arbeiten.«
Lia überlegte eine Weile.
»Bist du zufrieden?«, fragte sie.
»Womit?«
»Das weißt du doch.«
»Ja. Ich bin zufrieden. Sehr zufrieden. Wir haben gewonnen.«
»Ich bin nicht zufrieden.«
»Das sieht man dir an.«
»Ist dir das egal?«
»Nein, keineswegs«, antwortete Mari. »Aber ich lasse mir
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