Die Frau ohne Gesicht
machte Lia sich zu Fuß auf den Weg zur U-Bahn-Station Waterloo. Dort war ein Taxistand, das wusste sie. Auf dem Weg dorthin blickte sie sich immer wieder um und achtete darauf, unbeleuchtete Stellen zu meiden.
Niemand schien sie zu verfolgen.
Die Warteschlange am Taxistand vor der Station war lang und bewegte sich kaum vorwärts. Da Lia sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, entschied sie sich für die U-Bahn, die um diese Zeit noch fuhr.
Der Bahnsteig war voll mit sich küssenden Pärchen und jungen Partygängern. Lia fühlte sich allmählich sicherer, und die Bahn kam schon nach drei Minuten.
Sie hatte dreizehn Stationen zu fahren, etwa zwanzig Minuten. In Hampstead würde sie zu Fuß nach Hause gehen müssen, denn dort um diese Uhrzeit ein Taxi zu bekommen war wie ein Lottogewinn. Der Waggon war überfüllt, und Lia bekam keinen Sitzplatz. Sie lehnte sich so an die Wand, dass sie festen Stand hatte und nirgendwo mit der schmerzenden Schulter anstieß.
Der erste Halt war Embankment. Lia beobachtete genau, wer zustieg. Weder der Mann im dunklen Anzug noch sein Helfer waren dabei. Dann beschleunigte die U-Bahn wieder, und in das fröhliche Stimmengewirr mischte sich das Quietschen der Räder. Als der Waggon sich in der Kurve leicht schräg legte, sah Lia in den hinteren Teil. Eine Glatze erschien in ihrem Blickfeld.
Es war, als rammte ihr jemand eine Eisenstange in die Magengrube.
Erschrocken kniff sie die Augen zu. Als sie sie wieder öffnete, war der Mann nicht mehr zu sehen, doch als der Wagen erneut schaukelte, kam er wieder zum Vorschein.
Der Glatzköpfige war im selben Wagen und bemühte sich, nicht entdeckt zu werden!
Du verdammt dumme finnische Frau.
Das Herz klopfte Lia bis zum Hals, als sie ihre Alternativen abwog.
An der nächsten Station raus? Er kommt mir nach.
Erst in Hampstead raus? Er kommt mir nach und sieht, wo ich wohne.
Die Polizei alarmieren? Dann läuft er weg, aber ich muss den Polizisten erklären, was passiert ist. Und mein Name wird registriert.
Lia sah auf die Uhr ihres Handys. Sechzehn Minuten bis Hampstead.
Soll ich Mari anrufen? Vielleicht kann ich an der Station irgendwen in ein Gespräch verwickeln, um etwas länger geschützt zu sein. Mari kann mir Hilfe schicken … Aber das dauert zu lange, und von hier aus kann ich nicht telefonieren!
Lia warf einen Blick auf ihr Display. Kein Netz.
Dann fiel ihr Herr Vong ein. Herr Vong hatte immer geholfen, wenn Studentinnen nachts auf der Straße standen und nicht ins Wohnheim kamen. Und Herr Vong hatte ein Moped.
Aber ihr Handy blieb von einer Station zur anderen leblos. Nicht ein einziger Strich, keine Verbindung zum Netz. Und das, obwohl Lia aus Erfahrung wusste, dass Mobilfunktelefone in der Nähe der Stationen immer wieder funktionierten.
Die Bahn fuhr weiter. Als die Fahrt sich vor der nächsten Station verlangsamte, erschien endlich ein Strich auf dem Display, verschwand aber gleich wieder. Gequält beobachtete sie, wie das schwache Netzsignal mehrmals kurz aufflackerte, um sogleich wieder zu erlöschen.
Der Zug hielt. Lia streckte das Handy zur offenen Tür hin. Ein Strich – sie hatte Verbindung zum Netz!
Lia wählte Herrn Vongs Nummer und wartete.
Es klingelte einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal.
Melde dich. Bitte! Du musst dich melden!
Nach dem fünften Klingeln hörte sie Herrn Vongs verschreckte Stimme: »Hallo?«
»Hallo Herr Vong. Hier ist Lia Pajala. Es tut mir sehr, sehr leid, dass ich Sie geweckt habe, aber es ist ein Notfall. Ich sitze in der U-Bahn nach Hampstead, und im selben Wagen ist ein Mann, der mir etwas antun will.«
Das Pärchen, das neben Lia stand, schnappte einige Worte auf und sah sie verwundert an, doch Lia ließ sich davon nicht stören.
»Du liebe Güte«, sagte Herr Vong.
»Könnten Sie jetzt gleich zur Station kommen? Mich mit Ihrem Moped abholen?«
»Du liebe Güte«, wiederholte Herr Vong.
Dann wurde seine Stimme fester. »Miss Pajala, ich fahre sofort los. Ich bin in zehn Minuten dort.«
Lia legte auf.
Sie musste zwölf Minuten und sieben Stationen warten, bis sie Hampstead erreichte. In den zwölf Minuten sah sie sich entführt und blutig geschlagen im Kofferraum eines weißen Volvo liegen und überlegte, welchen Widerstand sie dem glatzköpfigen Muskelprotz entgegensetzen könnte. Bei jedem Stopp drängte es sie, aus dem Wagen zu stürmen. Sie dachte an das Jahr in Finnland, in dem die Angst vor Gewalt ihr vertraut geworden war. Und an das distanzierte Verhältnis
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