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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
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der Nacht mit seinem Moped abgeholt hatte, hätte sie ihm wahrlich am liebsten auf Knien gedankt. In den dunklen, kleinen Straßen hätte ihr Verfolger sie schließlich allzu leicht erwischen können. Nicht auszudenken, was dann alles hätte passieren können.
    In der Kidderpore Avenue angekommen, hatte Lia Herrn Vong geraten, nicht direkt vor dem Wohnheim zu halten. Und so hatte er sein Moped ein paar Häuser weiter abgestellt, und gemeinsam hatten sie das Wohnheim durch den Seiteneingang betreten. Herr Vong hatte keine Fragen gestellt, doch Lia hatte ihm eine Erklärung geben wollen.
    »Der Mann hat mich zusammen mit einem anderen in einem Club angegriffen und ist mir dann gefolgt.«
    »Eindeutig die Sorte Mensch, von der man sich fernhalten sollte«, hatte Herr Vong entgegnet.
    Als Lia in ihre Wohnung gegangen war, hatte er gewartet, bis sie die Tür von innen verriegelt hatte. Dann erst war er die Treppe hochgestiegen.
    Sie hatte kein Licht gemacht: Zum ersten Mal war ihr das Souterrainzimmer schutzlos erschienen. Doch nachdem sie eine Weile im Dunkeln herumgetappt war und nach der Taschenlampe und einer Tablette gegen den Schmerz in ihrer Schulter gesucht hatte, war ihr die Situation absurd vorgekommen.
    Warum habe ich Angst?
    Sie hatte sich auf das Bett gesetzt und überlegt. Höchstwahrscheinlich hatte sie den Mann abgeschüttelt. Wie lange wollte sie zu Hause im Dunkeln hocken?
    Jetzt höre ich auf, mich zu fürchten. Das habe ich schon einmal geschafft. Also kann ich es auch jetzt!
    Sie hatte an die Tote in dem weißen Volvo gedacht und gespürt, wie die Erschütterung nachließ und Entschlossenheit Platz machte.
    Ich versuche herauszufinden, wer du warst. Von Furcht lasse ich mich nicht abhalten. Furcht ist nur ein Gefühl.
    Ihre Unruhe hatte sich allmählich gelegt. Sie hatte Licht gemacht und Tee gekocht. Dann hatte sie ein Schmerzmittel und eine Schlaftablette genommen. Während sie darauf wartete, dass die Wirkung einsetzte, hatte sie ein Buch aus dem Schrank genommen, ein Geschenk von Herrn Vong.
    Es war ein alter, in Hongkong für den asiatischen Markt veröffentlichter London-Reiseführer. Anfangs hatte Lia nicht einmal darin blättern mögen, so billig und einfach sah er aus. Doch auf den zweiten Blick hatte sie ihre Meinung geändert. Das Buch hieß »London, Good For You!« und enthielt Kapitel wie Warum London? Das London der Frauen. Händeschütteln nicht vergessen.
    Es war ein putziges, in steifem, stark vereinfachtem Englisch abgefasstes Buch. Es schilderte das London der 60er-Jahre und die britische Lebensweise aus asiatischer Sicht, die Lia fremdartig erschien. Manches, was der Reiseführer beschrieb, war inzwischen fast völlig aus der Stadt verschwunden, etwa die Herrenclubs und die fliegenden Händler. Aber das Buch war von entwaffnender Aufrichtigkeit.
    Lia hatte im Bett gelegen und den Reiseführer betrachtet, dessen Welt in krassem Gegensatz zu den Ereignissen des Abends stand. Dabei war sie sich ihrer Gefühle gegenüber ihrer Umwelt erneut bewusst geworden. Gefühle konnte man beherrschen. Die harmlose, gutartige Stadt, die das Buch beschrieb, existierte nicht, aber irgendwo fanden sich noch Spuren davon.
    Sie hatte tief und fest geschlafen.
    Am Morgen war Lia zum Arzt gegangen, weil ihre Schulter immer noch bei jeder Bewegung schmerzte. Sie hatte behauptet, sie wäre von einem Motorrad angefahren worden. Der Arzt hatte nur eine Zerrung festgestellt und ihr ein starkes Schmerzmittel verschrieben.
    »Ich bin mit dem Schrecken davongekommen. Aber ich begreife nicht, warum die Kerle so aggressiv reagiert haben«, sagte Lia zu Mari. »Ein paar Fragen nach lettischen Prostituierten, und schon rennen sie los, um eine einzelne Frau zu verprügeln.«
    »Wenn die Männer Zuhälter großen Stils waren, also ein Geschäft betrieben, in dem es um viele Kunden und um viel Geld ging, ist ihre Reaktion verständlich«, meinte Mari. »Jeder, der danach fragt, stellt für sie ein Risiko dar.«
    »Na, ich gehe da jedenfalls nicht mehr hin«, erklärte Lia.
    »Nein. Überhaupt halte ich es nicht mehr für richtig, dass irgendwer allein in den Nachtclubs nachforscht«, sagte Mari. »Wir werden einen anderen Weg finden. Vielleicht kann sich Paddy um die Clubs kümmern. Ich muss darüber nachdenken.«
    Lia sah sich in Maris Zimmer um und merkte, dass sie sich im Studio sicher fühlte.
    Komisch. Noch vor Kurzem ist es mir seltsam und geheimnisvoll vorgekommen.
    »Du denkst gerade, dass sich deine

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