Die Frau ohne Gesicht
in der Vassall Street war Vanags zu einem Supermarkt gefahren und hatte eine Tüte voll Lebensmittel eingekauft. Dann war es weitergegangen nach Lewisham, in die Sangley Street, wo er einen Schlüssel aus der Tasche geholt und die Tür zu einem Reihenhaus aufgeschlossen hatte. Er hatte sich beide Male nur etwa zehn Minuten im Haus aufgehalten und die Einkaufstüte dort gelassen. Von außen hatte man keine Sicht in das Haus, aber am zweiten Abend hatte Vanags beim Eintreten Licht im Flur gemacht, und Paddy hatte eine vorbeihuschende Gestalt gesehen.
»Nach der Größe der Einkaufstüte würde ich schätzen, dass dort mindestens zwei Menschen wohnen«, fügte Paddy hinzu.
Von der Sangley Street fuhr Vanags zu einer Striptease-Bar namens Assets in Hackney. Die Bar hatte seit Jahren Probleme mit ihrer Konzession und war dafür berüchtigt, dass so manchem Kunden hier schon die Geldbörse entwendet worden war. Gelegentlich war auch mal ein Gast zusammengeschlagen worden.
»Eine ziemliche Kaschemme«, urteilte Paddy.
Dort hielt Vanags sich eine Stunde auf, bevor er nach Hause fuhr. Paddy hatte beobachtet, dass er sich im Hinterzimmer mit dem Wirt unterhalten hatte wie mit einem alten Bekannten.
»An beiden Abenden dieselbe Route«, wiederholte Paddy. »Was hältst du davon?«
»Kassiert er ab? Vielleicht betreibt er das Freudenhaus und ist auch an der Bar beteiligt«, meinte Lia.
»Sehr wahrscheinlich.« Paddy warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Und ich glaube nicht, dass in dem Reihenhaus in der Sangley Street seine alte Mutter wohnt, die den Weg zum Laden nicht mehr schafft.«
Es war schon nach sechs, als Lia und Paddy sahen, dass Vanags sein Geschäft schloss. Er holte die Reklametafel herein und verriegelte sorgfältig die beiden Schlösser an der Tür.
Paddy wartete, bis Vanags aus dem Bild verschwunden war, und ließ den Motor an.
»Wir lassen ihn in aller Ruhe abfahren. Ich nehme an, dass er dieselbe Runde dreht wie bisher.«
Die Annahme erwies sich als richtig. Als Paddy seinen dunkelblauen BMW auf die High Road lenkte, sahen sie Vanags’ Wagen im Stau stehen.
»Erkennt er dein Auto nicht wieder?«, fragte Lia.
»Ich habe jeden Abend ein anderes benutzt. Solche Ausgaben moniert Mari nie.«
Sie hielten sich gut hundert Meter hinter dem Wagen.
»Auf diese Entfernung ist es schwierig, jemanden zu erkennen«, erklärte Paddy. »Von weitem erkennt man einen Menschen höchstens an der Kleidung und der Haarfarbe, deshalb trage ich jeden Tag andere Sachen, und gestern hatte ich eine Schirmmütze auf. Wenn wir ihn morgen wieder beschatten, solltest du dich auch anders anziehen.«
Als sie die Vassall Street erreichten, parkte Paddy in reichlicher Entfernung von dem Haus, zu dem Vanags fuhr. Sie beobachteten, wie er ausstieg, den Wagen abschloss und hineinging.
»Jetzt heißt es warten.«
Lia überlegte, was Vanags wohl in der Wohnung tat.
Kassiert er die Einnahmen von gestern Abend? Unterhält er sich mit dem Zuhälter über die Marktlage? Bumst er die Prostituierten?
Es war bereits dunkel. Lia merkte, dass Paddy die Umgebung in den Autospiegeln beobachtete und das Gesicht abwandte, wenn jemand vorbeiging.
»Es bleibt sicher nicht unbemerkt, dass wir so lange hier herumsitzen. Deshalb darf man auch nicht versuchen, zu unauffällig zu wirken. Das weckt erst recht Neugier«, erklärte Paddy. »Oft lohnt es sich, eine Weile auszusteigen und einen kleinen Spaziergang zu machen. Aber ich glaube, heute Abend warten wir einfach.«
Zum Zeitvertreib erläuterte er die Kniffe des Beschattens.
»Es genügt nicht, dass du weißt, wo sich das Objekt bewegt und was es tut, wenn es in deinem Blickfeld ist. Das ist nur der Anfang.«
Es sei wichtig, herauszufinden, was für ein Mensch der Observierte war. Wie dachte und handelte er? Neigte er zum Beispiel dazu, in Panik zu geraten? Wie würde Lia vorgehen, wenn sie ihn festnehmen müsste? Wenn man lerne, solche Dinge zu erkennen, wisse man bereits sehr viel über das Objekt. Es gehe nicht nur darum, einen Menschen zu beobachten, sondern man müsse auch einschätzen können, was er als Nächstes tun würde.
Das alles klang in Lias Ohren zwar vernünftig, aber durchaus schwierig.
Ich habe keine Ahnung, wie Männer vom Schlag eines Kazis Vanags denken.
Lia war auch von den kleinen Tricks beeindruckt, von denen Paddy sprach, etwa von seinem Rat, Blickkontakt zu meiden. Jeder erinnere sich am besten an Personen, mit denen er Blickkontakt gehabt hatte. Zudem sei es
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