Die Frau ohne Gesicht
roh, dass Mari in Panik gerät.
Dieser Mann hat viele Male getötet. Männer und Frauen, mit fester Hand und sachlich wie ein Briefträger, der die Post austrägt, und Mari ist davon überzeugt, dass er auch die Lettin getötet hat, deren Leiche in dem weißen Volvo gefunden wurde.
Der Mann betrachtet eine der Frauen im Laden. Mari sieht, dass er denkt, wie gern er die Frau flachlegen würde – dann wird der Gedanke zu quälend.
Mari rennt auf die Straße, hinter ihr fällt scheppernd die Ladentür zu. Tränen laufen ihr über die Wangen und das Kinn, sie wird von Weinkrämpfen geschüttelt.
Sie winkt ein Taxi heran, mustert den Fahrer nur kurz, doch intensiv genug, lässt sich auf den Rücksitz fallen und nennt ihr Ziel in Hoxton.
Ein gutes Stück von ihrer Wohnung entfernt steigt Mari aus. Immer mindestens drei Straßen vorher.
Sie ist völlig kraftlos, aber sie muss die letzte Strecke zu Fuß gehen und sich vergewissern, dass ihr niemand folgt. Der Mann, der getötet hat, begleitet sie in ihrem Inneren, in der mit Furcht gepaarten Gewissheit, die sie erfüllt.
Jetzt sind es zwei. Arthur Fried und dieser Mann. Beide müssen gestoppt werden.
Vor ihrem Wohnhaus steht ein alter Mann, ein Greis, langsame Bewegungen, Spazierstock, uralte Schirmmütze. Mari betrachtet ihn und sieht etwas, das sie erst nach einer Weile identifizieren kann – das, was übrig bleibt, wenn ein Mensch beginnt, alles loszulassen. Das Vergessen.
Mitfühlend und zugleich neidisch sieht Mari den Alten an. Sie kann nicht auf Vergessen hoffen.
Zwei Männer, gegen die etwas getan werden muss.
In ihrer Wohnung in der obersten Etage schaut sie aus dem Fenster. Sie sitzt lange dort, Stunde um Stunde. Die Furcht brennt in ihr, der Hass stählt sie. Sie sitzt am Fenster, bis sie ihre Gedanken unter Kontrolle hat.
In dieser Nacht schläft Mari nicht, sondern denkt nach.
27.
»Wir müssen den Mann beschatten«, sagte Mari.
Lia begriff sofort, dass irgendetwas sie erschüttert hatte.
Im Laden habe sich nichts Konkretes ergeben, versicherte sie ihr. Sie habe nur den Mann hinter dem Ladentisch angesehen und gewusst, dass er gefährlich sei. Mehr nicht.
»Glaubst du, er hat die Lettin ermordet?«, fragte Lia.
Mari hatte nichts als ihre Empfindung. Deshalb war es sinnlos, zur Polizei zu gehen. Der verzierte Kamm war kein ausreichender Beweis.
Dennoch hatte Lia das Gefühl, dass etwas geschehen war.
Mari hatte den wichtigsten Punkt gelöst: Nun hatten sie eine klare Richtung für ihre Nachforschungen.
Jetzt sei Patrick Moore der Richtige, sagte Mari.
»Für die Beschattung. Wenn du willst, kannst du mitmachen. Falls er bereit ist, dich mitzunehmen.«
Lia überlegte.
»Ja, das würde ich gern tun.«
Maris zweiter Vorschlag war unangenehmer. Sie bat Lia, noch einmal in das Büro der Fair Rule zu gehen.
»Wenn du so plötzlich verschwindest, wundern sie sich. Besser, sie schöpfen keinen Verdacht. Sag ihnen meinetwegen, in den nächsten Tagen hättest du keine Zeit, zu helfen. Außerdem kann es durchaus sein, dass du noch etwas Neues entdeckst«, erklärte Mari.
»Oder sie entdecken, dass ich ihre Nazilehren nicht teile«, entgegnete Lia. Nach kurzem Zögern stimmte sie schließlich doch zu. Sie hatte keinen Grund, abzulehnen, nur ein unangenehmes Gefühl.
Am nächsten Abend ging sie nach der Arbeit ins Parteibüro. Bei ihrem Anblick lächelte Stephen zufrieden, war aber enttäuscht, als sie ihm sagte, sie werde in den nächsten zwei Monaten nicht mehr kommen.
»Mein Freund und ich sind auf Wohnungssuche. Du weißt ja, wie schwer es ist. Das kostet unglaublich viel Energie«, erklärte Lia.
»Tu mir das nicht an! Du bist mit Abstand die beste Layouterin, die wir je hatten. Und du verpasst die spannendsten Momente vor der Wahl«, versuchte Stephen sie zu überreden.
»Danke, aber ich muss mich wohl damit begnügen, den Wahlkampf aus der Ferne zu beobachten.«
Lia gestaltete ein Flugblatt, aber da Fried sich nicht blicken ließ und auch sonst nichts Besonderes passierte, verabschiedete sie sich von Stephen.
»Vorläufig«, betonte sie. »Es kann ja sein, dass ich demnächst doch nochmal wiederkomme.«
»Das hoffe ich.«
»Stephen, ich wollte dich schon lange fragen, was du eigentlich von den Slogans hältst. Stehst du voll dahinter?«
Stephen sah sie überrascht an.
»Natürlich. Sonst würde ich doch nicht meine ganze Zeit dafür opfern.«
Lia nickte und ging schnell hinaus.
Patrick Moore rief Lia zwei Tage später an und
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