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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
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Pajala.«
    Lia grinste. »Danke. Gleichfalls.« Dann ging sie ins Haus.

26.
    Mari ist in Leyton auf dem Weg zu dem Lebensmittelgeschäft Eastern Buffet. Der Name bringt sie zum Lächeln. Das ist gut, Lächeln ist eine gute Sache, sie weiß, dass sie neuerdings zu ernst ist und sich im Voraus Sorgen darüber macht, was passieren könnte. Sie hat lange gezögert, in den Laden zu gehen.
    Der Sommer war schön, vor allem wegen Lia. Sie hat Mari jeden Tag zum Lachen gebracht. Aber den ganzen Herbst über ist es Mari schwergefallen, einen klaren Kopf zu behalten.
    Den Besuch im Laden ist sie Lia schuldig. Und der Lettin, die irgendwer getötet und so schrecklich zugerichtet hat, dass er keine Milde verdient.
    Mari fürchtet sich davor, den Laden zu betreten. Wenn er der Stützpunkt brutaler, böser Menschen ist, wird es schwer für sie. Sie hat das schon erlebt, wenn sie mit Kriminellen zu tun hatte; manchmal war ihre Reaktion so stark, dass sie sie nicht verbergen konnte.
    Von ihrer Fähigkeit hat Mari nur wenigen Menschen erzählt. Aber selbst ihnen hat sie verschwiegen, wie sie sich im Lauf der Jahre gewandelt und Mari verändert hat.
    Sie kann nicht immer wählen, welche Menschen sie liest. Mitunter passiert es einfach. Manchmal kommt sie sich vor wie eine Antenne, die die Signale der Menschen empfangen und in ihrem Innern spüren muss.
    Es gibt Tage, an denen Mari ihre Gedanken völlig unter Kontrolle hat. Aber in den letzten Jahren hat sie immer häufiger das Gefühl gehabt, dass die Fähigkeit sie beherrscht und sich nur durch extreme Willenskraft in Schach halten lässt. Oder durch Trinken – schon vor langer Zeit hat sie gemerkt, dass Alkohol ihre Empfänglichkeit für die Signale anderer schwächt. Auch deshalb hat sie die Abende mit Lia genossen. Ihre kleinen Trinkgelage. Momente, in denen Mari sich endlich einmal ganz und gar lebendig fühlen konnte.
    Mari bleibt vor dem Eastern Buffet stehen und holt tief Luft. Fremde Gerüche, eine fremde Welt. Sie geht hinein. Der Laden sieht genau so aus, wie Lia ihn beschrieben hat.
    Mari betrachtet die Kundinnen und erkennt sofort, dass einige von ihnen nicht nur hier sind, um Essen einzukaufen. Sie suchen etwas, das die Leere füllt, das Vakuum, das entsteht, wenn die Erinnerung an die Heimat, an die Zugehörigkeit allmählich schwindet. Die Erinnerung an eine Welt, die sie verloren haben.
    Das Gefühl ist so stark, dass Mari Tränen in die Augen steigen.
    Sie hat nie Heimweh gehabt, aber jetzt, mitten in diesem Laden, dessen Regale mit echten und künstlichen Stückchen der Wurzeln dieser Menschen gefüllt sind, ist sie nahe daran, loszuheulen.
    Um sich zu beruhigen, betrachtet sie die Kalender und Zeitschriften im Wandständer. Sie sind in Sprachen geschrieben, die Mari nicht beherrscht, weshalb sie ihr verschlossen bleiben. Es tut ihr gut, dass es etwas gibt, das unbekannt bleibt und keine Gedankenflut auslöst.
    Mari sieht die Kämme und Spiegel mit der Perlmuttverzierung und zuckt zusammen. Hier, unter den teils notwendigen, teils überflüssigen Waren, ist ihr die Bedeutung dieser kleinen Gegenstände plötzlich vollkommen klar.
    Sie gehören zu einer Tradition, in der kleine Mädchen abends stillsitzen, während die Mutter ihnen die Haare kämmt oder bürstet. Hundert Bürstenstriche. Die Mütter sitzen abends neben ihren Töchtern, jeden Abend, selbst wenn der Tag noch so hektisch war, und die Töchter nehmen den ruhigen Rhythmus des Kämmens auf und tragen ihn mit sich. Die Töchter empfinden etwas, das vielleicht nie zu einem bewussten Gedanken wird: Wenn sie selbst Töchter bekommen, werden sie diesen abendlichen Moment weitergeben.
    Die Kämme und Spiegel sind mit weißen Margeriten verziert, und die Frauen, die sie kaufen, lächeln dabei über ihre Kindheitserinnerungen.
    Das hat auch diese Lettin getan.
    An der hinteren Wand bewegt sich ein Vorhang, der Ladenbesitzer kommt in den Laden. Die Bewegung lässt Mari instinktiv aufschauen.
    Eine Sekunde vergeht, vielleicht zwei, dann erwidert der Mann den Blick.
    Mari versucht, ihre Reaktion zu stoppen. Den Aufschrei kann sie unterdrücken, aber gegen den Schmerz, der ihren ganzen Körper ergreift, ist sie machtlos.
    Der Mann sieht sie an, und Mari weiß, dass er an sein volles Lager denkt, an die von weit her bestellte Ware, die er nicht loswird, daran, dass im Laden so viele Frauen sind, die sich nur umsehen, aber nichts kaufen. Sie weiß auch, dass der Mann eine dunkle, schwarze Seite hat. Er ist so kalt und

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