Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)
ihr
Unbehagen von Stunde zu Stunde wachsen. Falls sie nichts dagegen unternahm, die
Intensität dieses emotionalen Teufels sich noch weiter steigerte und sich
solcherart auf ihr Gemüt legte, wie eine schales Laken auf eine Tote, würde sie
wohl oder übel ihren Schiffsarzt konsultieren müssen. Seine Antwort, das konnte
sie sich nur allzu lebhaft vorstellen, würde ihr keineswegs gefallen. Sie schaute
durch das Bullauge und versuchte eine aufkeimende Panik zu unterdrücken. Immer hatte
sie es gewusst, hatte vor dem Start noch darüber gelacht, als sie darauf angesprochen
wurde; mit einem strahlenden Lächeln hatte sie dem Psychologen, ihren Vorgesetzten
und nicht zuletzt der Öffentlichkeit versichert, es könne sie gar nicht treffen,
dieses sagenumwobene Virus, das sich Heimweh nach der Erde nannte. Es schien
ihr, als hätte sie dieses Virus mittlerweile infiziert und begonnen, erste Schäden
in ihrem Gehirn anzurichten; Konzentrationsschwächen, Unbeherrschtheit,
Unsicherheit und die Einbildung, das die vom Lebenserhaltungssystem umgewälzte
Luft einen angenehmen feuchten Duft nach Gras und Wald verströmte.
In schmalen Bahnen sandte die Sonne ihre Strahlen durch das undurchdringliche
Gewirr aus Stämmen, Ästen und Zweigen und ließ den Tau wie silbrige Diamanten auf
dem Waldboden strahlen. Weich federte der bemooste Boden jeden ihrer Schritte
ab, als sie immer weiter in die Unberührtheit der Natur vordrang; eine
Unberührtheit, die selbst auf der Erde nur noch in den Büchern der Geschichte, in
den Erzählungen aus der Vergangenheit und im Reich der Legenden existierte.
Fast genau vor fünfzig Jahren schon war das letzte Stückchen tropischen
Regenwalds für einen wohltätigen Zweck geopfert worden – das
Wirtschaftswachstum. Die Giganten der amerikanischen Westküste, die Redwoods,
waren zu diesem Zeitpunkt schon zu einer Randnotiz in der botanischen Geschichte
Nordamerikas verkommen. Karen lief durch den Wald – ihren Wald –, bahnte sich den
Weg zwischen Baumstämmen hindurch, die so dicht standen wie Fußgänger in der
morgendlichen Rushhour in New York. Unendlich zärtlich strich der Wind durch
die Zweige, streichelte ihr Haar, gab ihr das Gefühl, frei atmen zu können. Sie
lehnte sich an einen Stamm, sah nach oben, wo die Baumkronen ihren
schwindelerregenden Reigen tanzten. Tief sog sie die Luft in ihre Lungen und
fuhr gleich darauf erschrocken zusammen, als ein Eichhörnchen stammaufwärts
einen kleinen Umweg über ihre Schulter machte.
»Hallo?«
Es war Nancy, die ihr mit der rechten Hand auf die Schulter
tippte. »Alles in Ordnung?«
»Ja, es geht schon«, entgegnete Karen lapidar.
»Was geht schon?« Die Geologin sah sie eindringlich an. »Nur
weil du die Kommandantin bist, heißt das nicht, dass du dich mir nicht
anvertrauen kannst.« Sie setzte einen amikalen Gesichtsausdruck auf, den sie
noch mit einem zarten Lächeln unterstrich.
Wie eine Dreizehnjährige, die gerade ihren ersten Joint
geraucht hatte und nun hoffte, dass ihr die Eltern nicht auf die Schliche kämen,
sah Karen ihre Beine entlang und heftete den Blick auf ihre Füße. »Es ist nur …«
»Okay, so geht das nicht. Bevor du fortfährst mich
anzulügen, beginn lieber noch mal von vorne und lass das ›nur‹ weg. Sonst sehe
ich mich gezwungen, diese Tatsache heute Abend in mein persönliches Logbuch einzutragen:
Kommandantin belügt ihre Geologin.«
Karen verzog das Gesicht, doch zu einem Schmunzeln reichte
es nicht. »Gehen wir wohin, wo wir ungestört reden können.«
»Willst du ins Kino oder lieber ins Café? Ins Pub? Oder doch
lieber zum Italiener?«
»Wer will zu mir?«, hallte Umbertos Stimme vom anderen Ende
der Brücke, der sich gerade von Rossinis ›Il Barbiere di Siviglia‹ einnebeln
ließ.
Nun musste Karen doch lachen.
»Frauengespräch!«, gab Nancy energisch zurück, nicht ohne
einen koketten Blick auf die kräftige Statur des schwarzhaarigen Italieners zu
werfen, der, nur mit seinen ›Arrivederci Roma‹-Shorts bekleidet, versuchte, mit
seinen muskulösen Oberschenkeln die weibliche Hälfte der Crew zu beeindrucken.
Sie enterten den Niedergang ab und verkrochen sich in Karens
Quartier. Ein winziges Fleckchen Privatsphäre weit draußen zwischen Erde und
Mars.
»Also, was bedrückt dich?«, fragte Nancy noch eine Spur
sanfter und liebevoller als zuvor.
Karen versuchte ruhig und gleichmäßig ihre Brust zu heben
und zu senken, in der Hoffnung, ihr Atem möge diesen angenehmen Rhythmus
ebenfalls
Weitere Kostenlose Bücher