Die fünf Leben der Daisy West
fühle ich mich bereit dafür. Wenn es so weit ist, werde ich am Boden zerstört sein, aber bis dahin möchte ich so viel Zeit mit meiner Schwester verbringen wie möglich.«
»Bewundernswert, dass du das so sehen kannst«, sage ich und bin aufrichtig beeindruckt. »So positiv.«
»Das mache ich nicht bewusst«, antwortet Matt. »So fühle ich mich einfach.«
»Ich nicht.«
»Nein?«, wundert sich Matt.
»Überhaupt nicht. Für mich ist das natürlich alles neu und vielleicht ist es ziemlich naiv von mir, aber ganz ehrlich, ich will, dass sie wieder gesund wird.«
»Das wird nicht geschehen«, erwidert Matt sachlich, was mich wirklich ärgert. Er schließt den Reißverschluss seiner Jacke und das erinnert mich daran, dass mir ebenfalls kalt ist. Ich knöpfe meine Strickjacke zu und lasse dann die Arme hängen, sodass er wieder nach meiner Hand greifen könnte, wenn er wollte, doch stattdessen schiebt er seine Fäuste in die Taschen. Ich versuche, nicht enttäuscht zu sein.
»Können wir vielleicht das Thema wechseln?«, frage ich.
»Gern.«
»Okay, erzähl mir von dir«, schlage ich vor. »Ich weiß, dass du gut in Englisch bist, öffentlich zur Schau getragene Dummheit gewisser junger Damen verabscheust, aber selbigen bereitwillig aus der Misere hilfst, wenn sie hilflos und komplett besoffen sind. Was machst du sonst noch gern? Mit wem verbringst du deine Zeit? Was hast du nach der Schule vor?«
»Oh Mann«, ruft Matt und lacht kurz auf. »Wird das jetzt ein Verhör?«
»Selbstverständlich«, entgegne ich. »Also, fangen wir mit einer leichten Frage an. Wie du weißt, ist Audrey meine beste Freundin ... wer ist dein bester Freund?«
Matt zögert, doch gerade als ich bereits befürchte, dass er den Coolen geben und irgendetwas Blödes sagen wird, nach dem Motto, das sei doch was für Mädchen, öffnet er sich ein wenig.
»Drew«, antwortet er. »Er ist in unserem Englischkurs.«
»Der Typ, der vor dir sitzt?«, frage ich.
»Genau. Wir sind seit dem Kindergarten miteinander befreundet. Er ist der witzigste Typ, den ich kenne.« Matt grinst. »Und er ist ein Super-Gitarrist. Er spielt in einer Band mit einigen Jungs von Omaha South. Er will mich dauernd überreden, bei ihnen mitzumachen.«
»Welches Instrument spielst du?«, erkundige ich mich.
»Baseball«, sagt Matt mit todernster Miene.
»Jetzt sag schon«, dränge ich ihn und versuche mich zu erinnern, ob ich in seinem Haus irgendwelche Instrumente gesehen habe. Als ich noch überlege, ob in der Garage nicht ein Schlagzeug in der Ecke stand, fällt mir –
»Klavier«, sagt er leise. »In der Band würde ich Keyboard spielen.«
»Cool. Das solltest du auf jeden Fall tun.«
»Wahrscheinlich«, antwortet er schulterzuckend. »Und womit vertreibst du dir die Zeit, außer dich mit Spießern zu betrinken?«
»Sehr komisch«, höhne ich, um Zeit zu gewinnen. Was soll ichihm antworten? Eine Band, die mich umwirbt, habe ich leider nicht zu bieten. Die Zeit vergeht und mein Schweigen wird so langsam peinlich, also antworte ich ehrlich: »Ich lese gern und ziemlich schnell. Oft lese ich vier Bücher auf einmal. Ziemlich beknackt, oder?«
»Nein, das ist cool. Ich wünschte, ich würde mehr lesen.«
»Und ich blogge.«
Matt schaut lächelnd in eine andere Richtung.
»Was ist?«
»Nichts, nur ... das weiß ich schon. Audrey hat mir den Blog gezeigt. Ich habe jeden neuen Eintrag gelesen. Du schreibst wirklich witzig.«
Mir stockt der Atem. Matt liest meinen Blog?
»Ist dir das unangenehm?«, will Matt wissen. »Ich hoffe, das ist jetzt für dich kein Angriff auf –«
»Meine Privatsphäre?«, lache ich. »Nein, privat ist so ein Blog sicher nicht. Ich bin nur noch nie einem meiner Leser persönlich begegnet.«
»Echt nicht? Was ist mit deinen alten Freunden in Frozen Hills?«
Nach kurzem Zögern sage ich: »Hey, Matt? Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«
Er sieht mich erwartungsvoll an.
»Ich hatte in Frozen Hills nicht wirklich Freunde.«
Anstatt mich als Lügnerin zu bezeichnen oder – schlimmer noch – nach dem Grund zu fragen, murmelt Matt »Pech für sie« und sagt dann laut: »Ich habe gehört, dass du die Musik von Arcade Fire magst.« Dann greift er wieder nach meiner Hand.
Leider erreichen wir einige kurze Minuten später die andere Seite der Brücke. Wir bleiben stehen, um zu entscheiden, wo wir weitergehen sollen und beschließen umzukehren. Auf dem Rückweg ist der Blick sogar noch schöner: Vor uns erstreckt sich die Stadt
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