Die Fuenfzig vom Abendblatt
eben stand er mit weit auseinandergespreizten Beinen auf dem Seil und nahm von ihm mit den Zähnen ein seidenes Tuch auf, richtete sich wieder hoch und ging dann in schnellen, kurzen Schritten zur Seite zurück, wo seine Schwester auf einem schmalen Absprungbrett bereitstand.
Die nun folgenden Übungen am Trapez waren nicht gerade neuartig. Ähnliches gehörte zum ständigen Programm mittelmäßiger und guter Varietes. Aber dadurch, daß die beiden Artisten besonders jung waren und ohne Netz arbeiteten, wirkten die Darbietungen doch ungewöhnlich und sogar gefährlich. Jetzt verbeugte sich der hellblonde Junge gerade. Sein Haar fiel ihm in die Stirn, und sein weißes Trikot glänzte im Licht der Scheinwerfer wie Seide.
„Der zweifache Salto“ — sagte er nur, und er war dabei so außer Atem, daß man seine Worte kaum hören konnte.
Der Dicke in seinem karierten Anzug schob sich zurecht, um bequemer sehen zu können, und lag nun förmlich in seiner Loge. Der Chefredakteur des Nachtexpreß trommelte mit seinen Fingern auf das Programmheft, und Zirkusdirektor Bertoldi zwirbelte erregt an seinen Bartspitzen. Die Jungen um Alibaba aber rückten ganz dicht zusammen. Jetzt schoben sie sogar ihre Köpfe über die Sitzbretter der Bänke.
Die Trompeten der Musikkapelle verstummten. Nur noch der Wirbel einer hellen Trommel war zu hören.
Links und rechts des Seiles standen die beiden jungen Menschen in ihren weißen Trikots, hoch aufgerichtet und mit ausgebreiteten Armen. Sie schienen sich über die zwanzig oder fünfundzwanzig Meter hinweg, die zwischen ihnen lagen, in die Augen zu sehen. Dann plötzlich, wie auf ein Zeichen, schnellte sich als erste das Mädchen von ihrem schmalen Sprungbrett und wirbelte durch die Luft. Ihr langes Haar hing für den Bruchteil einer Sekunde, als sie mit dem Kopf nach unten schwang, im Licht der Scheinwerfer goldgelb glänzend zur Erde — und dann stand sie plötzlich auf dem Seil. Sie schwankte — und nur mit sichtbarer Anstrengung, vor allem ihrer Beine, brachte sie allmählich das Seil wieder in seine ursprüngliche ruhige Lage.
Ein paar Hände rührten sich schon irgendwo zum Applaus. Doch der Wirbel der Trommel dauerte weiter an.
Als das Seil nun wieder ruhig vor ihm lag, setzte auch der Junge zum Sprung an. Zentimetergenau kam er nach einem einwandfreien doppelten Salto dicht vor dem Mädchen zu stehen. Das Seil schwankte stärker als zuvor. Aber die beiden hatten sich die Hände gereicht und meisterten nun gemeinsam ihre gefährliche Lage. Diesmal war der dicke Chefredakteur des Nachtexpreß der erste, der zu applaudieren begann. Die übrigen Herren seiner Loge schlossen sich an, bis dann auch die Salven des dicken Fleischermeisters dazwischen krachten. Erneut setzte die Musikkapelle ein, und die beiden Remos, die jetzt wieder in der Manege standen, verbeugten sich. Beinahe etwas flüchtig und nur so, als ob es eben sein müßte.
Diesmal mußten sich wohl alle Jungen und nicht nur Sam allein Gewalt antun, um nicht ihre ehrliche Bewunderung ebenfalls in die Hände springen zu lassen. Nur zu gern hätten sie sich dem Beifall der übrigen angeschlossen. Und als der Direktor jetzt persönlich an der Spitze seiner Elefanten zur nächsten und letzten Darbietung die Manege betrat, war die Erregung in ihnen noch so stark, daß sie kaum zu den fünf grauen Dickhäutern hinunterschauten.
Alibaba war der erste, der beim Klange des nunmehr einsetzenden Fehrbelliner Reitermarsches wieder den Rückzug antrat. Denn abgesehen davon, daß er jetzt seine Neugierde befriedigt hatte, würde es auch zweckmäßig sein, das Zirkusgelände zu verlassen, solange seine Bewohner durch die Vorstellung noch im Zelt zurückgehalten waren.
Die Jungen der Horde waren stumm dem Beispiel ihres Bosses gefolgt. Eine Weile mußten sie sich noch, als sie bereits wieder die Erde gewonnen hatten, in den Schatten des Zeltes drücken, weil draußen einer der Manegenarbeiter mit zwei Eimern Wasser zu den Stallungen hinüberging, wo er wohl Kamele oder Pferde zu tränken hatte. Dann aber setzten die Jungen in langen Sprüngen über den Rasen, gewannen an den Wohnwagen vorbei den Zaun und fanden sich auf der Straße wieder zusammen. Dabei war es zumindest verwunderlich, daß sich ihre Gedanken und ihr Gespräch zu Anfang nur mit den beiden Remos beschäftigten. Erwin Kogge freilich, der sich stets etwas viel und gern auf seine ausgiebigen Mädchenbekanntschaften zugute tat, bewunderte vor allem den weiblichen Teil
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