Die Fuenfzig vom Abendblatt
einer der Fahrer, den Harald selbst erst gerade überholt hatte, wieder nach vorne zu kommen. Aha, soweit ist es also schon!
So weit schon, daß die anderen bereits Morgenluft wittern.
Plötzlich war der Junge wieder hellwach. Jede Müdigkeit wie weggeflogen. Er trat mit aller Kraft in die Pedale. Schon nach Sekunden arbeiteten seine Beine wieder im gewohnten Rhythmus. Sein Angreifer, der schon auf gleicher Höhe mit ihm gelegen hatte, fiel erneut zurück, und kurz darauf zog er nun seinerseits an dem rot-weißen Einundzwanziger vorbei, der schon so lange vor ihm lag.
Bereits in der Kieler Straße ging er in den Endspurt.
Er wußte genau, daß dies zu früh war. Aber es mußte gewagt werden, wenn er hoffen wollte, noch zur Spitze zu kommen.
Es galt jetzt alles zu gewinnen oder alles zu verlieren.
Der Fahrer, der jetzt vor ihm lag, schien schon stark ermüdet zu sein. Als Harald auf seine Höhe kam, setzte er sich kaum zur Wehr. Er war nicht mehr in der Lage, sein Tempo zu steigern. Der Vierer aber war ein zähes, schmales Kerlchen. Er trug das hellgelbe Trikot der „Telefunken“-Werke.
Als Harald in seine Nähe kam, hob er sich aus dem Sattel. Er hielt den Kopf tief gesenkt und sah nur immer wieder zwischen seinem Oberarm und der Achselhöhle vorbei hinter sich.
Zweimal war Harald in gleicher Höhe mit ihm. Aber jedesmal steigerte der andere sein Tempo so, daß der Junge wohl mit ihm Schritt hielt, ihn aber nicht überholen konnte.
Erst jetzt, beim dritten Mal, kam Harald Stück für Stück an ihm vorbei.
Nun lag nur noch der Anführer des Nachtexpreß vor Harald an der Spitze. Vier Radlängen mochten es sein, die ihn von Bulle trennten. Er fuhr unbeirrt sein Tempo. Und dieses Tempo war nicht von schlechten Eltern!
Aber Harald fühlte sich jetzt so frisch wie zu Anfang des Rennens. Jetzt, da er dem Boß der Konkurrenz so nahe auf den Fersen war, dröhnte es ihm förmlich in den Ohren. Wie eine Art hell schmetternde Marschmusik.
Dieser letzte Zweikampf zwischen ihm und dem anderen war plötzlich mehr als ein sportlicher Wettstreit. Eine Ehrensache der Horde. Ein Kampf: Abendblatt oder Nachtexpreß.
Aber darüber hinaus hatte dieses Duell für Harald noch ganz private, sozusagen persönliche Hintergründe. Da war noch eine Rechnung in Ordnung zu bringen. Zwischen ihm und dem da vorne. Die Sache von jenem Abend, da ihn der am Kiosk von Herrn Krüger behandelt hatte wie einen kleinen Lausejungen.
Von wegen „Jüngelchen“ — „Steck deine Nase nicht in fremde Dinge“ und so weiter. Harald hatte bis heute noch keine dieser Freundlichkeiten vergessen!
„An jenem Abend glaubten Sie, Herr Bulle, meine ,Visage’ doch schon irgendwie einmal gesehen zu haben — Ich werde alles dazu tun, daß Sie sich künftig stets an diese ,Visage’ erinnern, wenn von diesem Rennen und seinem letzten Kilometer die Rede ist.“
Und ein Kilometer etwa war es jetzt noch bis zum Ziel.
Bulle hatte sein Tempo noch gesteigert.
Harald holte gepreßt aber gleichmäßig Luft. Seine Augen schlossen sich jetzt zu zwei ganz schmalen Strichen. Sein Mund war zusammengepreßt. Nun war wieder das Stampfen der Kolben in ihm. Der Motor.
Aber die Bewegungen der Beine blieben nicht mehr ständig gleich. Meter für Meter steigerte sich ihr Tempo. Von den Zehenspitzen bis in die Oberschenkel waren seine Muskeln bis zum äußersten gespannt.
Handbreite um Handbreite schob sich Harald an seinen Vordermann heran. Nun konnte er schon die Sicherheitsnadeln erkennen, mit denen Bulle sich seine Nummer auf dem Rücken festgesteckt hatte.
Vorsichtig und so, als wolle er sich nicht verraten, hob sich Harald aus seinem Sattel. Es mochten noch etwa zweihundert Meter sein bis zur Kurve am Großen Stern. Bis dahin mußte er es schaffen. Zumindest so weit, daß er nur noch eine Radlänge hinter dem andern lag.
Aber Harald hatte nicht mit all den Menschen auf den Trottoirs gerechnet.
Solange sie ihn angefeuert hatten, als er noch irgendwo inmitten des Feldes lag, war ihr Rufen wie eine Peitsche gewesen, die ihn vorwärts trieb und die ihm geholfen hatte. Aber als sie jetzt laut zu rufen anfingen, weil sie sahen, wie er sich aus seinem Sattel hob, um den anderen anzugreifen, da taten sie ihm keinen guten Dienst. Da verrieten sie ihn.
Nun war der Boß der Nachtexpreß-Leute gewarnt. Blitzartig riß er den Kopf zur Seite und sah hinter sich. Und was er da im Bruchteil einer Sekunde bemerkte, hatte ihm genügt. Sein Rücken krümmte sich noch mehr,
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