Die Gabe der Magie
Blick
lächelte Sadima. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Hast du denn
irgendwelche Wünsche?«
Er schüttelte den Kopf. »Alles war viel
besser als das, was Franklin und ich uns selbst zubereitet haben. Hast du ihn
gesehen? Ich habe erwartet, er würde hier sein und an den Abschriften arbeiten,
die ich benötige.«
Sadima ging mit den leeren Eimern um ihn
herum und stellte sie auf den Balkon. »Dort trocknen sie am besten«, erklärte
sie und schaute dabei hinaus auf das Gedränge auf der Straße. Als sie Franklin
entdeckte, der davonging, war es, als hebe sich ein Stein von ihrem Herzen. Sie
trat ans Geländer und legte die Hände wie einen Trichter um den Mund.
»Franklin«, schrie sie. »Somiss hat mich gerade gefragt, ob ich dich gesehen habe.«
Er fuhr herum. »Ich komme gleich wieder
hoch«, rief er zurück.
Sadima wandte sich um und wäre beinahe mit
Somiss zusammengestoßen. Er stand ihr im Weg, und sie starrte ihn an, während
sie darauf wartete, dass sich ihr Puls wieder beruhigte.
Nach einem langen Augenblick trat er einen
Schritt beiseite.
24
SCHON AM NÄCHSTEN TAG ASS ICH MEINEN
GESAMTEN VORRAT AUF. ALLES, WAS ICH HATTE.
Ich hatte mir selbst geschworen, nur ein
wenig vom Käse und eben genug Brot zu mir zu nehmen, um den Schmerz in meinen
Eingeweiden zu lindern, aber ich konnte einfach nicht mehr aufhören. Später,
als Gerrard mir den Rücken zuwandte und lernte, setzte ich mich so ans Fußende
meines Bettes, dass ich sein Essen sehen konnte. Ich war mir ganz sicher, dass
er es noch nicht angerührt hatte. Trotzdem zählte ich die Äpfel und Orangen,
und in meinem Mund sammelte sich die Spucke. Mein Vater hatte oft Orangen aus
Levern eingeführt. Celia verwendete sie für frische Salate und Kompotte. Und
sie machte daraus die Obsttörtchen, die mein Vater so sehr liebte.
Ich legte mich hin und zwang mich, ein
Geschichtsbuch zu lesen. Nach den Königreichen und Erbfolgen gab es ein Kapitel
über die Anfänge der Akademie selbst. Der
Gründer hatte mit seiner Arbeit – der Wiederentde ckung der alten Sprache
– bereits begonnen, als er noch sehr jung gewesen war, und er hatte sich geschunden
und kaum die Zeit genommen, zu essen oder zu schlafen. Limori war damals eine
kleine Stadt und viel weniger sicher als jetzt. Auf den Straßen trieben sich bettelnde
Kinder herum, viele von ihnen Waisen aus Familien, die in
einem der endlosen Kriege des Königs zerschlagen worden waren. Sie waren
hungrig genug, um für etwas Essbares zu töten. Es gab Zigeuner, die in die
Stadt gekommen waren und immer wieder Menschen ausraubten, Frauen angriffen und
manchmal Säuglinge entführten, um sie als Sklaven aufwachsen zu lassen.
Der König hatte nichts unternommen, um
diesem Treiben ein Ende zu bereiten, nichts,
um die armen Wai sen zu speisen. Der
Gründer war von königlichem Geblüt. Er hätte der nächste König werden
können, aber er verzichtete darauf, um eine Akademie ins Leben zu rufen. Seine
königliche Familie glaubte ihn auf Irrwegen und versuchte mehrere Male, ihn zu
töten.
Ich schloss meine Augen, das Buch lag
aufgeschlagen auf meiner Brust, und ich fragte mich, ob der Gründer ebenfalls
seinen Vater gehasst hatte. Lange Zeit lag ich wach und wünschte mir, ich wäre
in eine arme Familie im South End hineingeboren worden, denn dann wäre ich
jetzt mehr wie Gerrard. Außerdem wäre ich dann entweder überhaupt nicht hier,
oder, wenn es der Zufall doch so gewollt hätte, bliebe mir immerhin die geringe
Chance zu überleben. Lernt es oder sterbt, hatte Somiss gesagt. Sterbt. Hatte mein Vater all dies gewusst?
A
M NÄCHSTEN MORGEN VERZEHRTE GERRARD EINEN
APFEL UND EIN STÜCKCHEN KÄSE. ER ASS IM SITZEN am
Schreibtisch, und er hatte mir den Rücken zugewandt. Ich versuchte, nicht hinzusehen; ich versuchte sogar zu lesen, aber ich
schaff te es nicht. Ich konnte die Äpfel riechen. Niemals in
meinem Leben hatte ich Hunger verspürt, jedenfalls nicht länger als einige Minuten.
Wenn ich zu Hause etwas essen wollte, hatte ich Celia gefragt. Wenn sie nicht
bereits zubereitet hatte, worum ich sie bat, dann hatte sie sich unverzüglich
darangemacht, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Und an jeder Schule, die ich besucht
hatte, gab es dreimal am Tag eine ordentliche Mahlzeit, und Früchte und einfache
Speisen standen in Körben und auf Tabletts im Speisesaal bereit, damit sich
alle bedienen konnten, die noch spät auf waren und lernten. Oder in meinem Fall
für jene, die aufs Dach
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