Die Galerie der Lügen
das nicht fassen, Mortimer. Die NCS hat auch von meinen Ermittlungen profitiert. Ohne mich würden Sie nicht wissen, dass Julian Kendish und Norman Daniels alias Sean O’Connor sich schon Anfang der Achtziger gekannt und vermutlich sogar zusammen bei HUGE gearbeitet haben.«
»Mein Chef steht auf dem Standpunkt, wir hätten alle diese Dinge früher oder später auch selbst herausgefunden. Es tut mir Leid, Sportsfreund, aber ich muss mich an die Weisungen halten.«
»Was bedeutet das konkret?«, fragte Darwin kühl.
»Es heißt, dass ich das Schreiben bis Montag noch in meiner Schublade verschwinden lasse. Schließlich kann niemand von mir erwarten, dass ich am Wochenende auch noch meine Post lese.«
»Und Ihr Chef?«
»Den lassen Sie meine Sache sein. Fangen Sie Ihr › Gehirn ‹ , Darwin. Wenn Sie einen Erfolg vorweisen, wird am Montag alles anders aussehen. Aber falls nicht – dann sind Sie auf sich alleine gestellt.«
In den zurückliegenden zwanzig Stunden hatte der Chefermittler von ArtCare lange über Longfellows gewichtige Äußerung nachgedacht. Alex’ Worte trieben aus Darwins Erinnerung hoch. Er werde ein Goldfisch in einem Haifischbecken sein. Wie lange war das her? Nur anderthalb Wochen? Nun wurde die Luft tatsächlich dünn für ihn.
Er konnte es immer noch nicht fassen. Bis vor kurzem hatte er sich als Mitglied einer pluralistischen Gesellschaft verstanden, in der es zwar dunkle Ecken gab, die aber im Großen und Ganzen jedem seine eigene Weltanschauung ließ. Allmählich begriff er, dass die vermeintliche Toleranz nur so lange galt, wie das Andersdenken sich nach den Regeln der Allgemeinheit richtete. Irgendwann nach Galilei hatten sich die Vorzeichen geändert: Früher drohte die Kirche Kritikern mit dem Scheiterhaufen, jetzt wurden Querdenker im Namen der Wissenschaft zum Schweigen gebracht. Und wer mit ihnen auch nur sympathisierte, wurde ebenfalls mit dem Bann belegt. Neuerdings auch Darwin Shaw.
Er stieß ein schnaubendes Geräusch aus und schüttelte verständnislos den Kopf. Von beiden Seiten wandten sich ihm fragende Mienen zu.
»Das schmeckt mir nicht«, brummte er.
Boumans lächelte säuerlich. »Mir fielen auch zwei oder drei Dinge ein, die ich am Sonntagabend lieber täte, als…«
»Ich meine dieses reglose Bild.« Darwin deutete auf den Monitor. »Und die vielen Leute im Museum.«
»Das Videosignal ist live«, versicherte Blackwater, als fühle er sich persönlich angegriffen.
»Und die Zahl des Sicherheitspersonals haben Sie mit abgesegnet, Mr Shaw«, fügte der stellvertretende Direktor hinzu.
»Bin ich der Papst, dass ich unfehlbar wäre?«, erwiderte Darwin mürrisch. Schon seit sie mit zwei Kriminalbeamten und einem halben Dutzend weiterer Sicherheitsmänner des Museums in dem Kontrollraum zusammengepfercht saßen, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Was, wenn Kevin T. Kendish über eine Kopie der Codekarten des Sicherheitsdienstes verfügte? Damit hätte er überall im Museum ungehinderten Zugang? Gerade weil so viele Leute da draußen herumliefen, würde eine weitere Gestalt vielleicht gar nicht auffallen. Darwin beugte sich nach links.
»Zoomen Sie mal das Bild heran, Jeff.«
»Wozu?«
»In München hat der Dieb das Original durch eine Attrappe ausgetauscht. Ich will sicher gehen, dass wir nicht die ganze Zeit auf das falsche Bild starren.«
Blackwater und Boumans wechselten einen Blick, aber dann tat der Sicherheitsexperte wie ihm geheißen. Der Bau des Turms von Babel blähte sich auf, bis er den ganzen Bildschirm ausfüllte.
Jedes Mal, wenn Darwin das Gemälde van Cleefs betrachtete, zog es ihn erneut in seinen Bann. Die vom Künstler gewählte Perspektive, die sich von einer königlichen Visite vorne rechts bis zu einem mittelalterlichen Babylon am Horizont erstreckte, war atemberaubend, ja, geradezu unwirklich. Auch den Turm von Babel hatte der Maler dem Zeitgeschmack des sechzehnten Jahrhunderts angepasst. Auf der Mittelachse des Bildes kreuzten sich wie ein großes X zwei breite Chausseen, auf denen Handwerker mit ihren Packtieren zu sehen waren. Das Bauwerk selbst schmiegte sich ins obere Dreieck der Straßenkreuzung. Stufenförmig reckte es sich einem blaugrauen, wolkenverhangenen Himmel entgegen, aus dem von links die Sonne hervorbrach. In weiter Ferne sah man Vögel fliegen. Die unteren beiden Terrassen der monumentalen Zikkurat waren – der angrenzenden Straßen wegen – eckig. Darüber setzten sie sich in abgerundeter Form fort. Noch weiter
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