Die Gassen von Marseille
raushängen.
Meine Selbstsicherheit wundert sie.
»Gucken Sie nicht so. Das weiß ich schon lange … Ich habe oft zugesehen, wie Sie sie gemacht haben … Und glauben Sie mir, ich habe gut aufgepasst!«
Wir lachen.
»Was haltet ihr von Brousses du Rôve zum Dessert und dazu Casse-dents?«, schlage ich vor.
Die demokratische Abstimmung resultiert in drei erhobenen Händen. Also hole ich die langen, schmalen Ziegenfrischkäse, für die das kleine Dorf berühmt ist.
Das Essen ist köstlich, und wir genießen es in fröhlicher Runde.
Philippe erzählt uns von einem Fall, an dem er gerade arbeitet. Nach einer Anzeige ist er in das Haifischbecken von Olympique Marseille eingetaucht. Die Leidenschaft der Marseiller für ihre Fußballmannschaft wächst mit den Heldentaten ihrer Spieler. Mit seiner glänzenden Siegesliste symbolisiert dieser Verein einen Teil der Identität der Stadt. Dies bringt aber auch eine sehr komplizierte Buchführung mit sich, und die enormen Summen, die dort bewegt werden, locken jene Blutsauger in Schlips und Kragen an, die den Sport in Verruf bringen.
Mein Freund, der Kommissar, ist ein guter Erzähler mit typisch mediterranem Humor. Und so folgen wir gespannt den unerwarteten Entwicklungen dieser Affäre, die für großen Aufruhr in Marseiller Gerichtskreisen gesorgt hat. Esther und ich lachen uns halb tot.
Ich mache Kaffee und serviere ihn zusammen mit einem dreißig Jahre alten Rum, der genauso gut ist wie ein alter Armagnac. Juanita hat ihn mir aus ihrer Heimat mitgebracht. Der Alkohol lässt uns noch ausgelassener werden. Es geht uns gut … Alle Fenster stehen offen, und ein leiser Windhauch sorgt für Kühlung. Philippe hat recht. Es ist heiß.
Plötzlich läutet es. Im Türspalt werden das lächelnde Gesicht und der Krauskopf von Momo sichtbar. Auf dem Einwohnermeldeamt kennt man ihn wohl als Mohamed, aber bei uns heißt er Momo … Oder Bich, was er seinen schönen Rehaugen verdankt, ses yeux de biche. Er beugt sich von seinen zwei Metern herab und drückt mich an seine Brust.
Hinter ihm erscheint Claude. Tief gebeugt wie ein alter Mann schlurft er herein. Er leidet unter chronischen Rückenbeschwerden, sodass er fast nichts mehr alleine machen kann. Natürlich findet er so keine Arbeit. Findet er keinen Job, weil er so krumm ist, oder ist er so krumm, weil er keine Arbeit findet? Das ist die Frage … Natürlich hat er auch keine Freundin. Und das macht ihm zu schaffen … Aber wie soll man bitte rumschmusen, wenn man so krumm ist?
Wir küssen uns zur Begrüßung. Er wirkt besorgt.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Bedächtig nimmt er mich zur Seite.
»Sag mal, Constantin, die Jungs da unten knacken gerade ein Auto. Das gehört nicht zufälligerweise einem von deinen Freunden?«
»Verdammt! Hoffentlich nicht! Hier ist nämlich ein Bulle … Rat mal wer? Philippe Mateis. Ich brech’ zusammen, wenn der sich seine Karre klauen lässt.«
Ich drehe mich zu meinem Freund um.
»Phil, du solltest lieber in die harte Realität in diesem Viertel zurückkehren … Wirf mal einen Blick auf deinen Wagen … Claudius erzählt mir gerade, dass ein paar Jungs unten damit abhauen wollen.«
Er wird blass.
»Red keinen Scheiß!«
Eilig springt er auf.
»Der ist ganz neu. Der ganze Stolz der Abteilung … Stell dir vor, wie die sich kaputtlachen werden, wenn … Die verarschen mich doch jetzt schon pausenlos, weil meine Frau abgehauen ist, also wenn …«
Er beugt sich über das Balkongeländer und flucht mit zusammengebissenen Zähnen.
»Scheiße! He, ihr da unten! Soll ich euch vielleicht helfen … Verdammt!«
Ich platze vor Lachen. Momo und Claude stimmen lauthals ein, während Esther diskret hinter vorgehaltener Hand kichert.
Philippe brüllt immer lauter: »Weg da, verdammt! Okay, ihr habt es nicht anders gewollt, ich komm jetzt runter.«
Plötzlich wird sein Körper nach hinten geworfen. Das ganze Gebäude erzittert. Wie in Zeitlupe steigt eine orangegelbe Flamme aus der Straße auf. Mit einem Gefühl, als stünde ich außerhalb des Geschehens, sehe ich zu, wie nacheinander die Scheiben meiner Wohnung zerspringen.
Dann kommt der Knall. Die gewaltige Explosion macht uns völlig benommen. Ein ohrenbetäubender Moment, auf den Stille folgt, untermalt von leise herabfallenden Glassplittern.
»Klirr, klirr …«
Der beißende Geruch von Schießpulver.
Die Druckwelle hat uns alle ans Ende des Zimmers geschleudert. Nur Esther sitzt noch an ihrem Platz, die Rückenlehne des
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