Die gefangene Braut
Anjanet die letzte ist, die hier geboren wurde, und sie war ein Einzelkind.«
»Dann ist Mr. Caxton gar nicht hier geboren worden?« fragte Christina.
»Nein, er ist im Ausland geboren. Lady Anjanet ist viel gereist, als sie jung war«, erwiderte Mavis.
Christina beschlich ein gewisses Unbehagen, doch sie schüttelte es ab.
»Ich gebe Ihnen ein Zimmer im Ostflügel – mit Morgensonne«, sagte Mavis. Sie gingen durch einen langen Korridor im ersten Stock, der mit wunderbaren Wandteppichen behängt war. Sie kamen an einer offenstehenden Tür vorbei, und die blauen Töne der Einrichtung erinnerten Christina an ihr eigenes Zimmer. Die Größe und die Schönheit des Raumes verblüfften sie. Der Teppich und die Gardinen waren dunkelblau, und die Möbel und die Bettdecke auf dem massigen Bett waren in einem helleren Blau gehalten. In dem Zimmer gab es einen gewaltigen Kamin mit Marmoreinfassung.
»Könnte ich mich vielleicht in diesem Zimmer einrichten?« fragte Christina impulsiv. »Blau ist meine Lieblingsfarbe.«
»Natürlich geht das, mein Kind. Ich bin sicher, daß Mr. Caxton nichts dagegen hat. Er ist ohnehin nie zu Hause.«
»Oh – ich wußte nicht, daß es sein Zimmer ist. Ich kann unmöglich … «
»Das geht schon in Ordnung, mein Kind. Dieses Zimmer braucht ein bißchen Leben. Es ist jetzt seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr bewohnt worden. Ich lasse Ihr Gepäck nach oben bringen.«
»Aber sind hier nicht seine Sachen?«
»Doch, aber das Zimmer war für zwei Leute gedacht. Sie werden ganz bestimmt jede Menge Platz für Ihre Dinge finden.«
Nach dem Abendessen führte Mavis Christina durch das Erdgeschoß. Die freundliche Haushälterin, Emmaline Lawrence, gesellte sich zu ihnen. Im obersten Stockwerk befanden sich die Dienstbotenquartiere, eine große Bibliothek und ein Schulzimmer. Der Westflügel des ersten Stocks war völlig unbenutzt, doch im Erdgeschoß nahm ein riesiger Ballsaal die gesamte Rückfront des Hauses ein. Christina sah die Küche, einen großen Bankettsaal und ein kleineres Eßzimmer. Am anderen Ende des Hauses lagen das Arbeitszimmer des Gutherrn und der Salon.
Der Salon war prächtig ausgestattet und ganz in Grün und Weiß gehalten, und viele Porträts zierten die Wände. Christina fühlte sich zu dem größten der Porträts hingezogen, das über dem Kamin hing. Sie blieb davor stehen und sah in meeresgrüne Augen mit goldenen Sprenkeln. Es war das Porträt einer auffallend schönen Frau, deren pechschwarzes Haar über die bloßen Schultern floß. Christinas früheres Unbehagen kehrte in verstärkter Form zurück.
»Das ist Lady Anjanet«, unterrichtete Emma Christina. »Sie war so schön. Ihre Großmutter war Spanierin – daher hat sie das schwarze Haar, aber die Augen kommen von der Seite ihres Vaters.«
»Sie sieht so traurig aus«, flüsterte Christina.
»Ja, das Porträt wurde gemalt, nachdem sie mit ihren beiden Söhnen nach England zurückgekommen ist. Danach ist sie nie mehr glücklich gewesen, aber sie hat niemandem die Gründe verraten.«
»Sie sprachen von zwei Söhnen?«
»Ja, Mr. Caxton hat einen jüngeren Bruder, der in London lebt.«
Eine Woge von Schwindelgefühlen brach über Christina herein, und sie brach auf dem nächstbesten Stuhl zusammen.
»Ist alles in Ordnung, Miß Christina? Sie sind ganz blaß«, rief Mavis aus.
»Ich weiß es nicht – ich – ich – fühle mich etwas schwach. Könnten Sie mir eventuell den Vornamen von Mr. Caxton verraten?« fragte sie. Aber sie kannte die Antwort bereits.
»Ich dachte, das hätte ich schon gesagt«, sagte Emma. »Sein Name ist Philip. Philip Caxton, Esquire.«
»Und sein Bruder heißt Paul?« fragte Christina mit schwacher Stimme.
»Ja, aber weshalb? Woher wissen Sie das? Sind sie mit Mr. Philip bekannt?«
»Bekannt!« Christina lachte hysterisch. »Ich bekomme ein Kind von ihm.«
Mavis schnappte nach Luft.
»Aber warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?« fragte Emma, und auf ihrem Gesicht stand ein schockierter Ausdruck.
»Ich finde das einfach wunderbar!« platzte Mavis heraus.
»Sie verstehen mich falsch. Ich wußte nicht, daß das hier sein Haus ist. Mavis, Sie haben Johnsy nie gesagt, wie Mr. Caxton mit Vornamen heißt, und Philip hat mir nie gesagt, daß er in diesem Teil des Landes ein Gut besitzt. Ich kann jetzt unmöglich hier bleiben – das wäre ihm gar nicht recht.«
»Unsinn!« sagte Emma. »Wo sollte Mr. Philips Baby geboren werden, wenn nicht hier in seinem eigenen
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