Die Gegenpäpstin
unsäglicher Hitze, die ihre Adern durchflutete wie ein Feuerstrom, schleppte sie sich zu
einem Holzeimer mit Wasser, der kaum mehr als eine Schöpfkelle für sie bereithielt. Mit zitternden Händen stemmte sie sich
auf die Knie und zog sich an der Kante einer Vorratskiste hoch. Wankend gelangte sie nach draußen, in einen klaren, sonnigen
Morgen. Für einen Moment schloß sie die Lider, um neue Kräfte zu sammeln, damit sie den Weg zum Brunnen bewältigen konnte.
Als sie die Augen öffnete, sah sie eine Karawane von Menschen. Wie eine Ameisenarmee schlängelte sich ein nicht enden wollender
Strom von hell gekleideten Gestalten im Staub der Wüste den Berg hinauf. Und obwohl sie alles andere als gefährlich wirkten,
ohne Pferde, ohne sichtbare Waffen und viel zu langsam, ergriff Mirjam eine schleichende Furcht.
Es war ausgerechnet eine alte Freundin, Schoshana, die Mirjam die grausame Botschaft überbrachte, daß Jaakov in Jeruschalajim
auf den Tod durch Steinigung wartete, ihn vielleicht sogar schon erlitten hatte. Somit war höchste Eile geboten, das Versteck
zu öffnen und für die Unterbringung von beinahe tausend Menschen vorzubereiten – zumindest solange, bis sich die Wogen nach
der Verfolgung durch Hannas ben Hannas und seine Häscher wieder geglättet haben würden.
Schoshana verschwieg Mirjam hartnäckig den wahren Grund für Jaakovs Gefangennahme, sie sagte nur, er sei wegen Mißachtung
der Gesetze verurteilt worden, ein Urteil aus reiner Willkür, weil der römische Statthalter abwesend sei.
»Warum habt ihr nichts unternommen, um ihn zu verteidigen?« |305| Mirjam saß mit Schoshana auf Jaakovs Lager, nicht weniger entkräftet als die Neuankömmlinge, und trank Wasser aus einem Becher.
»Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand«, rechtfertigte Schoshana ihre Brüder und Schwestern. »Doch unsere Macht
reicht nicht besonders weit, wie du ja weißt.«
Mirjam nickte. Ja, sie wußte es. Schließlich hatte sie dieses Gefühl der Machtlosigkeit noch allzugut in Erinnerung, damals,
als Jeschua ans Kreuz geschlagen worden war. Sie hatten unter einem nachtschwarzen Tageshimmel auf einen erlösenden Blitzschlag
gewartet, der alle Römer und alle Ankläger des alten Glaubens in einem Feuer hinwegfegen würde. Doch nichts dergleichen war
geschehen.
»Trifft Paulus eine Schuld an Jaakovs Schicksal?« Mirjam sah die Mitschwester prüfend an.
»Nein«, erwiderte Schoshana zögernd. »Im Gegenteil, er hat sich lautstark bei den Rabbinern des Sanhedrin beschwert, hat sie
räudige Hunde genannt, die von Gott gestraft werden sollen, auf daß sie bis zum Jüngsten Tag daran denken werden.« Sie blickte
in eine unbekannte Ferne und lächelte bitter. »Man hat ihn verhaftet, doch im Gegensatz zu Jaakov will man bei ihm mit einer
Verurteilung warten, bis der neue Statthalter eintrifft.«
»Und wer ist bei Jaakov geblieben?« Mirjam war die Verzweiflung anzusehen. »Man kann ihn doch nicht einfach allein seinem
Schicksal überlassen. Am liebsten möchte ich heute noch aufbrechen und ihm beistehen. Ich kann nicht hier sitzen und seinen
Tod abwarten.«
Schoshana strich sanft über Mirjams gebeugten Rücken. »Das wäre keine gute Idee«, sagte sie leise. »Hannas ben Hannas will
dich genauso vernichten, wie er Jaakov vernichten will. Du bist die einzige Apostelin der wahren, reinen Lehre, die uns noch
geblieben ist. Was sollten wir tun, wenn du nicht mehr bei uns bist? Nur du und vielleicht noch Jochannan wissen, was Jeschua
wirklich |306| gemeint hat, als er sagte, wir sollen unsere Feinde lieben. Und daß vor Gott alle Menschen gleich sind, egal, ob Mann oder
Frau, einerlei, ob Jude oder Nichtjude, ob Sklave oder freier Mann, Hure oder Rabbiner. Allen anderen Aposteln, vorneweg Kephas
und Paulus, geht es doch längst nicht mehr um den himmlischen Frieden, sondern um Macht und Einfluß. Kleinmütig streiten sie
darum, wer die meisten Anhänger um sich scharen kann. Dabei wissen wir beide, daß Jeschua nichts mehr verabscheute als das
Gesetz, den Tempel und die Mächtigen. Er wollte Friede auf Erden und daß die Macht über die Menschen nur noch in der Hand
des Allmächtigen liegt.«
»Es war eine Vision«, flüsterte Mirjam abwesend. »Eine Vision, für die die Menschen auf Erden noch nicht reif sind.« Bitterkeit
malte sich auf ihren Zügen ab. »Und es bleibt fraglich, ob sie es jemals verstehen werden.«
»Der Tag wird kommen«, sagte Schoshana. Sie
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