Die Gegenpäpstin
Augen aller Anwesenden ungläubig hin und her. Auf der Rückseite befand sich eine Inschrift. Sie war
in Koiné geschrieben.
Du bist das Licht,
Mirjam von Taricheae,
das Oben und das Unten,
das Gestern und das Morgen,
zeitlos verbunden
mit allem was Er geschaffen hat
unendlich
wie die Liebe
in den Herzen der Erleuchteten.
|446| Eine Gänsehaut kroch über ihren Körper. Sarah erkannte die Inschrift wieder. Es war der Text aus der Höhle, der Text, der
das Grabmal der Mirjam von Taricheae schmückte.
|447| 48.
März 2007 – Prophetinnen
Der 25. März 2007 war ein Sonntag und damit nicht nur Jahresbeginn nach dem alten julianischen Kalender, sondern gleichzeitig
Weltgebetstag für die Frauenordination in der römisch-katholischen Kirche.
»Sei bitte vorsichtig«, mahnte Padrig. Zwei Tage und zwei Nächte waren vergangen, seit man ihn in die Privatklinik im Nordosten
von Rom eingeliefert hatte. Sarah war die ganze Zeit über nicht von seiner Seite gewichen. Doch nun wollte sie ihr Versprechen,
das sie Regine von Brest und deren Mitstreiterinnen gegeben hatte, einlösen und als Hauptrednerin an der Kundgebung der Frauen
in Rom teilnehmen.
»Mach dir keine Sorgen. Ich passe auf mich auf«, erwiderte Sarah und streichelte Padrig zärtlich über die bärtige Wange.
Sie zog ihren beigefarbenen Mantel an und ging ans Fenster.
Die Sonne strahlte, und die Luft war mild, ganz wie man es von einem Frühlingstag erwartete, der mit ungebremster Energie
die Naturkräfte voranschob, unaufhaltsam, wie das Leben selbst.
Draußen vor dem Klinikgebäude war es ruhig. Ihren Aufenthalt hatte man noch immer geheimgehalten. Doch das würde nach ihrem
Auftritt bei der Kundgebung kaum mehr möglich sein.
Eine leise Aufregung ergriff von ihr Besitz, als sie wie gewöhnlich in Cargo-Hose und in ein lässiges Hemd gekleidet in einen
gepanzerten, schwarzen Van der italienischen Polizei einstieg, der bereits auf sie wartete. Der schwerbewaffnete Fahrer brachte
sie zusammen mit zwei israelischen Bodyguards, die nach Absprache mit Gabriel Leon zugestiegen waren, zur Piazza del Popolo,
wo die Demonstranten sich zur Abschlußkundgebung versammeln würden.
Eigentlich war es nichts Ungewöhnliches, wenn in Rom eine |448| Demonstration stattfand. Jedoch nie zuvor war eine solche Veranstaltung mit einer derart spektakulären Berichterstattung einhergegangen.
Seit dem gestrigen Tag folgte eine Sondersendung im Fernsehen auf die nächste. War zunächst noch die Verhaftung des Sektenführers
Nero interessant gewesen, so schlugen sich die Paparazzi seit dem gestrigen Tag um die besten Fotos der unzweifelhaft attraktiven
Nachfahrin der Maria von Magdala. Der Strom von zweihunderttausend protestierenden Frauen und Männern, die sich gegen die
Ungleichbehandlung von Frauen durch die römisch-katholische Kirche erhoben, zog sich indes einem zähen Lavastrom gleich vom
Zentralbahnhof Termini zur Piazza del Popolo. Später würde man bis zu den Grenzen des Vatikanstaates vordringen, um in gebührendem
Abstand den allgemeinen Unmut über das längst nicht mehr zeitgemäße Denken und Handeln der Kirchenvertreter Luft zu verschaffen.
Beim Anblick der vielen erwartungsvollen Menschen wurde Sarah überraschend ruhig, zumal sie Padrig in Sicherheit wußte. Regine
von Brest stand ihr bei, zusammen mit sämtlichen Vorsitzenden der anderen internationalen Organisationen, die in die bisherigen
Geschehnisse eingeweiht waren.
Im strahlenden Sonnenschein und umgeben von Sicherheitskräften eskortierten sie Sarah gegen vierzehn Uhr auf eine eigens errichtete
Bühne. Die italienischen Kolleginnen hatten in der Zwischenzeit für alles gesorgt. Eine riesige Leinwand garantierte sämtlichen
Demonstranten eine gute Sicht auf die Diashow zur Entdeckung der Toten vom Jebel Tur’an, die Sarah souverän von ihrem Laptop
aus steuerte. In beinahe himmlischer Ruhe erklärte sie den mehr als zweihunderttausend Zuhörern, was sie auf dem Hügel in
der Nähe des Sees Genezareth vorgefunden hatte. Blatt für Blatt erläuterte sie die Übersetzungen der Pergamente. Danach zweifelte
niemand mehr daran, daß die Frauen sich bereits vor zweitausend Jahren unter der Obhut Jesu Christi absoluter Gleichberechtigung
erfreut hatten. Wahrscheinlich waren genau |449| aus diesem Grund auch so viele Frauen unter seinen Anhängern gewesen.
»Wie ihr alle wißt, bin ich keine Christin«, leitete Sarah ihre kleine Rede in englischer
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