Die geheimen Jahre
»Davon will Mama nichts hören. Ich hab ihr angeboten, nach Ely zu fahren und Dr. Lawrence zu holen, aber das hat sie kategorisch abgelehnt.«
Thomasine sah ihn eindringlich an. Für Nicholas war die Woche nach dem Tod seines Vaters aufreibend und zermürbend gewesen. Seine Erschöpfung zeigte sich in den tiefen Ringen unter seinen Augen und in der Art, wie er nervös auf die Tischkante trommelte. Sie stellte sich hinter ihn und küÃte ihn auf den Kopf.
»Ich schätze, sie ist einfach müde und trauert. Soll ich gehen und nach ihr sehen?«
Er hatte zu trommeln aufgehört, als sie ihre Hand leicht auf die seine legte. »Ich glaube nicht. Sie wollte wieder schlafen, hat sie gesagt. Ich schau später bei ihr rein.«
»Dann mach ich einen Spaziergang.« Der klare, strahlend blaue Himmel zog sie nach drauÃen. Der Wind hatte nachgelassen, und die letzten rostfarbenen Blätter an den Bäumen bewegten sich in der sanften Brise. »Kommst du mit, Nick?«
Er verzog das Gesicht. »Max Feltham kommt heute morgen vorbei. Pas Vermögensverwalter. Ich sollte seinen Schreibtisch durchsehen ⦠den Safe ⦠seine gesamten Sachen ⦠Das hab ich ohnehin schon zu lange aufgeschoben.«
Als sie durch das abgefallene Laub der Rotbuche schlenderte, sagte sich Thomasine, daà das Schlimmste vorbei war, daà sie das Begräbnis und das anschlieÃende Frühstück überlebt hatte, ebenso die Mittag- und Abendessen sowie die langen Abende in Gesellschaft der wiÃbegierigen und verweinten Blythes. Sie hatte es geschafft, in peinlichen Momenten nicht von Ãbelkeit übermannt zu werden, und alles versucht, daà der Familienstreà Nicholas nicht wieder an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachte wie in der letzten Woche.
Gestern war Lally mit dem Zug nach London zurückgekehrt, und Marjorie und Edward waren mit ihren beiden kleinen Söhnen nach Hampshire gefahren. Drakesden Abbey wirkte jetzt leer, das Haus hallte hohl und wirkte unheimlich, als trauerte es seinem früheren Besitzer nach. Auch wenn sie sich nicht mehr als Eindringling empfand, fiel es Thomasine immer noch schwer, sich nicht bloà als Gast und vorübergehende Besucherin vorzukommen.
DrauÃen wurde wieder einmal deutlich, daà die Insel, auf der Drakesden Abbey erbaut war, sowie Haus und Gärten ein Teil der sie umgebenden Landschaft waren. Sie erhoben sich zwar über sie, gehörten aber dennoch dazu. Die Luft schmeckte frisch, klar und kalt, und Thomasine konnte sehen, wo der Rasen endete und die Koppel begann, wo die Koppel endete und die Felder, der Fluà und die Ufer in den endlosen Horizont übergingen. Sie lieà das Haus hinter sich und ging den Hügel hinab. Unwillkürlich legte sie beim Gehen eine Hand auf den Bauch. Noch nicht einmal die kleinste Wölbung war unter den Lagen aus schwarzem Stoff zu erkennen, aber sie fühlte sich ruhig und voller Zuversicht. Wegen des Babys, wegen des kostbaren kleinen Lebens, das in ihr heranwuchs und das sie im nächsten Sommer in den Armen halten würde. Sie sah es schon vor sich â lächelnd und zufrieden. Und sie würde zu Drakesden Abbey gehören, wenn sie den Blythes einen Erben geschenkt hätte.
Sorgfältig begann Nicholas das Arbeitszimmer seines Vaters durchzusehen. Die Aufgabe bedrückte ihn: ihr AnlaÃ, ihre Endgültigkeit und weil sein Vater seinen eigenen Hang zu Sauberkeit und Ordnung nie geteilt hatte.
Max Feltham traf um Punkt halb zehn ein. Nicholas mochte Max. Max war ein Gentleman, kein kleiner, emporgekommener Buchhalter. Er schüttelte seine Hand. Max kondolierte ihm und erkundigte sich nach Nicholasâ Mutter und Gattin. Nicholas rückte Max einen Stuhl zurecht und lieà das Mädchen Tee bringen.
»Gute Reise gehabt?« fragte er. »Ich weiÃ, es ist eine ziemliche Strapaze.«
Max lächelte. »Alles bestens. Zuerst wollte ich mit dem eigenen Wagen rauffahren, aber um diese Jahreszeit schien mir der Zug dann doch günstiger zu sein.«
Nicholas hatte sich wieder an den Schreibtisch gesetzt und löste ein Band von einem Bündel Papiere. »Die StraÃen taugen nicht viel. Im Winter voller Morast und im Sommer voller Schlaglöcher.« Er sah auf die Papiere und seufzte. »Nett von Ihnen herzukommen, alter Junge.«
»Das ist das mindeste, was ich tun kann.« Max sah Nicholas an und warf einen Blick auf die Stapel aus
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