Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
2001 konnte ich dies verhindern, dann war ich machtlos. Der 11. September war einfach nicht zu verdrängen.
24. Kapitel
Ich hätte nie für möglich gehalten, dass die Kantische Ethik für mich einmal einen praktischen Wert bekommen würde. Zwar kannte ich den Inhalt recht gut, hatte in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auch einige Vorlesungen zu diesem Teilgebiet der Philosophie Immanuel Kants gehalten, war aber wie viele der Kritiker der Meinung, sie wäre viel zu abstrakt, formal und lebensfremd und gehe zu sehr von der Motivation der Menschen bei der Beurteilung des moralischen Wertes einer Handlung aus. In der Praxis hätte sie keinen Nutzen.
Im Unterschied zu den pragmatischen Morallehren, die mehr auf das Ergebnis einer Handlung schauten. Als ich kurz vor der Semesterpause nach Leipzig reiste, um wieder einmal einen Carpe-diem-Abend mit Tommy zu verleben, konnte ich mir noch seine letzte Vorlesung zum Thema „Die Freiheitsauffassung Kants und die moderne demokratische Gesellschaft“ mit anhören. Er sprach über den Freiheitsbegriff und führte aus, dass der korrelative Begriff zur „Freiheit“ nicht „Notwendigkeit“ wäre, sondern Verantwortungsbewusstsein“. Und dass es keine wirklich tragfähige Ethik gäbe, die nicht bewusst oder unbewusst die Idee Gottes und der Unendlichkeit zur Grundlage hätte. Selbst der moderne über den Weltanschauungen stehende demokratische Staat basiere auf Normen und Werten, die im Christentum ihren Ursprung hätten.
Ich fühlte mich angeregt, noch einmal die Originalschriften Kants zu lesen und in Verbindung mit dem zu bringen, was ich seit 1978 wiederholt erlebt hatte und vor allem mit dem, was mir oder der Welt bald bevorstand.
Ich war überrascht, Kant mochte vieles gewesen sein, aber kein weltfremder Denker. Vielleicht gerade, weil er die Welt sehr realistisch sah und sich auch über den Menschen mit seinen Trieben, Neigungen, Emotionen, Schwächen und egoistischen Interessen keine Illusionen machte, blieb nur die Möglichkeit, den Menschen als Bürger zweier Welten zu betrachten. Der empirischen, die von der Notwendigkeit beherrscht werde, in der der Mensch äußeren Verhältnissen und individuellen Trieben und Neigungen unterliege und der intelligiblen Welt, der Welt der Vernunft, durch die der Mensch die Fähigkeit besäße, eine Begebenheit von selbst anzufangen, also eine freie Willensentscheidung zu treffen. Es gäbe eine Vermittlung der beiden Welten, nämlich durch die menschliche Handlung. Freiheit ist für ihn ein reines Vernunftvermögen. Dieses Vermögen wäre autonom und unterliege keinen Naturgesetzen. Das eigentliche Kriterium für die Moral einer Handlung könne weder von den natürlichen Veranlagungen des Individuums noch vom Erfolg der Handlung abhängen. Ein Mann, der sieht, wie ein Kind ins Wasser fällt und zu ertrinken droht, diesem nachspringt und es rettet, muss noch keine moralisch gute Handlung vollzogen haben, er wusste vielleicht, dass die Eltern des Kindes reich sind und er mit einer großen Belohnung rechnen könne. Er hat vielleicht aus bloßem Eigennutz gehandelt. Ein anderer, der ins Wasser springt, wird möglicherweise von der Strömung fortgetrieben und kann das Kind nicht retten, aber sofern er ins Wasser gesprungen ist, um dem kategorischen Imperativ zu folgen (Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne), wird man ihm den moralischen Wert seiner Handlung nicht absprechen können. Und nur der kategorische Imperativ, so abstrakt er auch erscheinen möge, repräsentiere und garantiere den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Menschen unabhängig von der jeweiligen historischen Situation. Wenn Kant recht hatte, musste ich mich nicht davon mürbemachen lassen, dass meine Versuche, die Geschichte positiv zu beeinflussen, zu keinem sichtbaren Erfolg führten, solange ich diese Versuche wenigstens unternahm, auch ohne Rücksicht auf mein eigenes Wohlbefinden oder meine persönlichen Ziele. Aus der Tatsache, dass ich bisher gescheitert war, folgte nicht zwangsläufig, dass ich in Zukunft immer scheitern würde. Wenngleich mein Gefühl genau in diese Richtung deutete.
Mir fiel ein Satz ein, den ich vor Kurzem in einem Roman gelesen hatte und der meine depressive Grundstimmung nicht gerade aufheiterte: Es geht nicht darum, ob wir scheitern, scheitern tun wir letztlich immer, sondern darum, dieses Scheitern hinauszuzögern und mannhaft zu ertragen. Also
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