Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Naturgesetzen zweifelt, zweifelt man, sofern man bei gesundem Menschenverstande ist, an seinen eigenen Erklärungen oder am Umfang des zur Verfügung stehenden Erklärungspotentials. Ich hatte aber am eigenen Leibe Kräfte zu spüren bekommen, die mit den normalen Alltagserfahrungen nichts zu tun hatten und auf deren Grundlage auch nicht erklärbar waren. Ich hatte die Grenzen der theoretischen Vernunft praktisch zu spüren bekommen, also konnte ich ohnehin nicht mehr an ihre grenzenlosen Fähigkeiten glauben. Es wäre in meiner jetzigen Situation und unter Berücksichtigung des Erlebten sogar unvernünftig gewesen, nicht eine überirdische Kraft in Betracht zu ziehen.
    Mir fiel ein Ausspruch Goethes ein, dessen Tragweite und Bedeutung mir erst in dieser Situation vollauf bewusst wurde: Der Glaube ist nicht der Anfang, sondern das Ende alles Wissens. Ich war am Ende allen Wissens angelangt. Aber keineswegs am Ende des Denkens. Ich musste denken, um weiter zu kommen. Wenn auch die Angaben auf dem Uhrenboden tatsächlich den Psalm meinten, was folgte daraus für die Benutzung der Uhr oder für mein gegenwärtiges oder zukünftiges Handeln? Wenn ich diesen Psalm laut lesen würde, würde die Macht der Uhr aufgehoben werden, ich zum Ausgangspunkt zurückkehren? Was hätte dann das Erlebte für einen Sinn gehabt? Bislang tappte ich noch im Dunkeln, würde ich bald ein Licht am Ende des Tunnels sehen? Außerdem fehlte mir noch die Bedeutung der Buchstaben D L V.
    Diese zu herauszufinden, sollte mich nur ein Telefongespräch in einer Länge von knapp zehn Minuten kosten.
    Ich erzählte meinem Freund Tommy von meinem Treffen mit dem Alten und der Entschlüsselung der Ziffer auf dem Boden der Sanduhr. „Nun, ich kann dir eine weitere gute Nachricht mitteilen, ich habe gestern mein Latein aufgefrischt und alte Sprichwörter und Redewendungen vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt und dabei stieß ich auf die bekannte Formel: Deus Lo Vult! Übersetzt: Gott will es! Genau die Großbuchstaben, die auf deiner Uhr stehen. D. L und V. Nachdem, was du mir über den Psalm berichtet hast, macht die Sache durchaus einen Sinn. Diese Maxime und der Psalm passen zusammen.“
    „Gut, aber was soll mir das sagen? Ehrlich gesagt wäre ich froh, wenn wir uns am Wochenende sehen und nach langer Zeit einmal wieder ausführlich über alles sprechen könnten. Ich weiß, ich habe dich mehr als einmal mit meiner Sanduhr genervt, aber allein komme ich nicht weiter. Lass uns eine Art Brainstorming durchführen, ich hole uns einen guten Rotwein zur Anregung, vielleicht gibt es Gesichtspunkte, die ich bisher noch gar nicht beachtet habe. Nach dem Treffen mit dem Alten im Park habe ich das Gefühl, das ich dem Sinn des bisher Unbegreiflichen näher gekommen bin.
    „Ich will dir nicht zu viele Hoffnungen machen. Glaub mir, das Unbegreifliche bleibt unbegreiflich. Aber für einen guten Rotwein bis ich natürlich zu begeistern. Ich setze mich Samstag Mittag in den Zug und bin am späten Nachmittag in Berlin. Sonntag früh muss ich allerdings schon wieder zurück. Am Montag wartet ein schwieriger Vortrag auf mich und mir fehlt noch der Schlussteil.“ „Ich freue mich, vielleicht habe ich auch eine Idee für deinen Vortrag.“
    Wie versprochen, saß am Samstag Tommy auf meinem Bürodrehstuhl und hielt meine Sanduhr, die er im Laufe der Jahre schon des Öfteren eingehend gemustert hatte, in der Hand. „Ich begreife immer noch nicht, selbst wenn ich mal den magischen Aspekt beiseitelasse, wie diese Uhr funktioniert, wie ist es möglich, dass sich die Durchlaufzeit bei der gleichen Menge Sand so verändert? Selbst, wenn sie nicht die von dir beschriebenen Kräfte besitzen würde, wäre sie für sich schon ein Wunder. Wollen wir noch einmal rekapitulieren: Wir haben zwei gleiche, gegenüberliegende Böden mit verschiedenen Inschriften. Die eine scheint dir die Macht zu geben, in die Vergangenheit zurückzukehren. Die andere ist, wenn man den Text genau nimmt, auf Passivität oder Abwarten, oder einfach sich vertrauensvoll Fügen orientiert. So interpretiere ich zumindest die Buchstaben und Ziffern, deren Bedeutung wir seit deinem Gespräch mit dem Alten und meiner Lateinlektüre kennen.“ Ich nickte, wenngleich ich nicht erkennen konnte, dass wir mit dieser Interpretation auch nur einen Schritt weiter gekommen wären. „Ich kann inzwischen zwei Dinge mit Bestimmtheit sagen. Erstens: Die Sanduhr ist keine neutrale Maschine oder etwas Ähnliches, die