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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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Differenzen in Bezug auf Herkunft, Traditionen, Lebensweisen, politischen Zielen sind größer als die Gemeinsamkeiten. Selbst meine eigene Partei ist gespalten. Aber sobald Fremde das Land besetzen, ist man sich einig, zumal wenn es sich um Ungläubige handelt. Die Engländer haben dies mehr als einmal schmerzlich zu spüren bekommen. Die Sowjets gelten bei vielen meiner Landsleute als Atheisten, das Schlimmste, was man aus Sicht eines Moslems einem Menschen vorwerfen kann. Ich habe selbst im Untergrund und dann in den Truppen meiner Partei als Agitator gearbeitet. Erinnere mich bitte, dass ich dir nachher einige Fotos aus dieser Zeit zeige.“ Mir fiel ein, dass ich bei unserem damaligen Gespräch vergessen hatte, nach diesen Fotos zu fragen, diesmal würde ich aber daran denken. Ich hätte vielleicht lieber darauf verzichten sollen.
    „Du kannst dir kaum vorstellen“, fuhr Ahmed fort, „in welchen, zum Teil mittelalterlichen Vorstellungen, genau genommen sogar vormittelalterlichen Auffassungen und Einstellungen viele Afghanen, insbesondere die Bauern noch leben. Nur in den Großstädten gibt es eine kleine intellektuelle Schicht, die mit der Entwicklung gegangen ist. Vor allem die Hochschullehrer und Studenten sind fortschrittlich orientiert und sympathisieren mit den sozialistischen Idealen. Ich stamme übrigens aus einer Lehrerfamilie, mein Großvater war Lehrer und mein Vater und mein Onkel unterrichten noch heute in Kabul Deutsch und Englisch, gehören zu jener Schicht, die mehr kennt als den Koran und die Vorschriften und Gesetze des jeweiligen Stammes oder Clans.“
    Ich wollte die Gelegenheit nutzen, um aus berufenem Mund mehr über die Religion seiner Landsleute zu erfahren, auch in Hinblick auf Seminare zu den Weltreligionen, die ich in einigen Jahren würde abhalten müssen. „Warum, Ahmed, meinst du, hat der Islam solch eine große Wirkung und zieht so viele Millionen Menschen in seinen Bann?“
    Er überlegte nur kurz: „Ich denke, weil der Islam eine sehr primitive Religion ist, hat er vor allem bei Völkern mit einem niedrigen Bildungsniveau einen großen Zuspruch.“
    „Was meinst du mit primitiv?“
    „Nun, du bekommst eine ganz einfache Gottesvorstellung vermittelt. Nicht ein Gott, der zugleich Sohn und Heiliger Geist ist, eine schwer begreifbare Trinität, die selbst den großen katholischen Philosophen des Mittelalters schwer zu schaffen machte. Der Moslem bekommt leicht verständliche Normen und Regeln vorgesetzt. Und es gibt keine Trennung zwischen religiösem und alttäglichem Leben. Die Religion ist Teil des Alltags und bestimmt diesen. Nicht wie bei euch in Europa, wo die Christen vielleicht am Sonntag mal kurz zum Gottesdienst gehen, um ihr Gewissen zu beruhigen oder äußeren Konventionen zu entsprechen. Wenn du den Koran liest, wirst du feststellen, dass er nicht nur das Verhältnis von Männern und Frauen regelt, Strafen für Vergehen aufzählt oder in unzähligen Beispielen die Freuden des Lebens nach dem Tode preist, sofern du als Gläubiger Eingang ins Paradies gefunden hast, sondern auch profane Dinge erklärt und fordert. Eine Art Anleitung zum Handeln, das fast alle Bereiche umfasst. So wirst du die Aufforderung finden, dass sich jeder Gläubige nach der Verrichtung der biologischen Bedürfnisse die Hände waschen müsse, und wenn kein Wasser zur Verfügung stünde, dann sei zumindest Wüstensand zur Reinigung zu benutzen. Selbst, wenn ein Moslem nicht anderes kennen würde, als den Inhalt des Koran, käme er durchs Leben. Hinzu kommt der Umstand, dass in vielen Ländern die Koranschulen, die einzigen Bildungseinrichtungen sind, die sich auch die armen Bevölkerungsschichten für ihre Kinder leisten können.“ Mit fiel ein, dass es zwar 2008 nicht weniger Schulen als früher in Deutschland gab, aber ihre Ergebnisse ließen immer mehr zu wünschen übrig. Die Religion hatte keinen nennenswerten Platz in der Gesellschaft mehr, Gott war, wie Nietzsche schon einhundertundzwanzig Jahren zuvor diagnostiziert hatte, „tot“, seine Stelle nahmen Schauspieler, Popstars und Fußballspieler ein. Die „Erziehung“, die in den islamischen Staaten der Koran und seine Lehrer übernommen hatten, leisteten in Westeuropa die privaten Fernsehkanäle. Die Fernsehverantwortlichen hatten offenbar als Erste begriffen, dass es schon lange nicht mehr um eine bürgerlich-humanistisch Bildung mit dem Ziel eines hohen Allgemeinwissens und der Verinnerlichung historisch gewachsener humanitärer

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