Die Geier
Pikas.
»Los, Toland«, befahl er und öffnete die Wagentür.
»Wir werden uns die Sache mal genauer ansehen ...«
Während die Überlebenden der Riot Squad-Bande ab-
geführt wurden, der Gerichtsmediziner sich mit Shel-
leys Leiche beschäftigte und ein Polizist, der eben erst
aufgestanden zu sein schien, Jimmy O'Neal verhörte,
kümmerten Russel und zwei Krankenschwestern sich
um Pamela Sirchos. Als die Polizei eintraf, wurde die
Milliardärsgattin von einem leichten Unwohlsein befal-
len. Russel ließ sie auf ihr Zimmer in ihr Bett bringen,
das noch die Spuren ihres Liebesspiels von vorhin auf-
wies. Der Arzt fühlte sich peinlich berührt, als er das
Sockenpaar erblickte, das er am Fuß des Bettes verges-
sen hatte. Durch Zufall - oder auch aus Taktgefühl -
bemerkte keine der beiden Krankenschwestern es.
Pamela war zwar bei Bewußtsein, doch sie redete kein
Wort. Ihre Haut war wie durchsichtig, von feinen, leicht
vorspringenden Äderchen durchzogen. Ihre Augen
standen weit offen, genau wie damals, als sie zu ihrer
dritten Operation ins Sprague-Hospital in Miami einge-
liefert wurde. Russel empfand größte Mühe, sich seine
Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Ausführlich
horchte er Pamelas Brust mit seinem Stethoskop ab. Das
Elektrokardiogramm zeigte bereits eine deutliche
Schwächung des Herzmuskels an.
Erst nach einigen Minuten begriff Russel, daß Pamela
nicht sprechen konnte, da ihre Zunge geschwollen war.
Er unterdrückte eine verächtliche Grimasse und horchte
die Schläge ihres kranken Herzens ein weiteres Mal
ab.
Pamela betrachtete ihn mit demselben eisigen Blick,
mit dem sie ihn anschaute, als er mit ihr schlief.
Russel richtete sich wieder auf, entledigte sich des
Stethoskops und bat die Krankenschwestern, mit ihm
auf den Flur zu kommen. Einer der beiden jungen
Frauen standen bereits die Tränen in den Augen. Auch
Pamela mußte begriffen haben, was mit ihr los war.
»Geben Sie unverzüglich Doktor Mark Zorski in Phil-
adelphia Bescheid«, befahl Russel in unbeteiligtem
Ton. »Und versuchen Sie ebenfalls, Alexander Sirchos
zu erreichen.«
Eine Krankenschwester zog die Nase hoch.
»Hat die Herzklappe erneut nachgegeben?« fragte sie
mit weinerlicher Stimme.
Jeder, egal ob Mann oder Frau, vergötterte Pamela.
Russel zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht«, murmelte er. »Da ist so ein Ge-
räusch.«
Die beiden Frauen verschwanden. Einen Augenblick
lang stand Russel reglos da, verzweifelt, mit dem Rük-
ken an die Flurwand gelehnt.
Auf der anderen Seite der Wand lag Pamela Sirchos
im Sterben ...
Die beiden Polizisten hatten ihre Arroganz gänzlich ver-
loren. Offensichtlich erwartete jeder von ihnen, der an-
dere werde das Wort ergreifen und mit dem Verhör be-
ginnen. Zorski spüre, wie die lange hinausgeschobene
körperliche und nervliche Erschöpfung ihn allmählich
überwältigte. Nun endlich würde er wieder schlafen
können. Er hatte den Alptraum besiegt, die schreckli-
chen Bilder überwunden. Er würde es sogar ertragen,
daß diese beiden Beamten die Erinnerung nun wieder
aufleben ließen.
Der Polizist, der es länger im Operationssaal ausge-
halten hatte, räusperte sich. Seine von feinen roten
Äderchen durchzogenen Augen, sein fettiges Haar, das
ihm an den Schläfen bereits ausging, wiesen auf einen
vermutlich durch Alkohol und Streß überbeanspruch-
ten Organismus hin. Sein Hüftspeck und sein aufge-
blähter Bauch prophezeiten eindeutig eine spätere Dia-
betis. In fünf, spätestens in zehn Jahren würde auch
dieser Mann vor ihm auf dem Operationstisch liegen.
Und dann würde er sich daran erinnern, was er am heu-
tigen Abend gesehen hatte ...
»Wir haben erfahren, daß Sie und Doktor Simba eine
heftige Auseinandersetzung am Telefon hatten, be-
vor ...«
Er hielt inne, da er sich der Ungeheuerlichkeit seiner
Verdächtigung plötzlich bewußt wurde. Ein nervöses
Lachen erklang aus Zorskis Kehle.
»Muß ich ein Alibi vorlegen?« fragte er.
Der zweite Polizist schüttelte den Kopf. Dieser Be-
amte hatte ein schlaffes Gesicht. Von den Augen über
die Mundwinkel bis zu den zahlreichen Falten, die seine
Stirn durchzogen, schienen sämtliche Gesichtsmuskeln
gleichermaßen nach unten zu hängen. Die Suche nach
einem glücklichen und zufriedenen Leben hatte er
längst aufgegeben. Er überlebte mit einer Leber, die sich
in einem jämmerlichen Zustand befand. Mit einer Le-
ber, die ihn in ungefähr zehn
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