Die Geier
Odds die Frau an. Dieses Weib
wußte, was es wollte.
»Nehmen Sie Platz!« befahl er. »Ich brauche nur fünf
Minuten.«
Die Frau setzte sich wieder hin.
Eine Viertelstunde später konnte Odds feststellen,
daß Giova Llorens vor vier Jahren wegen einer Blind-
darmentzündung in die Abteilung von Doktor Franck
aufgenommen worden war und daß die Einzelheiten
der vorgenommenen Analysen genau mit der Suchmel-
dung übereinstimmten. Er brach die Verbindung ab
und rief im Amerikanischen Hospital an, wo man ihm
erklärte, daß es völlig unmöglich sei, falsche Angaben in
den Archiven der Zentrale zu speichern, da diese nur
durch ein täglich sich änderndes Codewort zugänglich
seien. Wenigstens in diesem Punkt hatte Madame
Franck also nicht gelogen, und plötzlich war Odds fest
davon überzeugt, daß sie auch in allen andern Punkten
die Wahrheit sagte. Dennoch erlaubte er sich eine letzte
Frage.
»Durch eine Rückenmarktransplantation ist bislang
noch kein Mensch gestorben«, murmelte er. »Wieso
glauben Sie, sich an diesem Mädchen rächen zu kön-
nen, wenn Sie uns helfen, sie ausfindig zu machen?«
Die Frau lächelte traurig.
»Wenn Sie die Absicht hätten, ein an Leukämie er-
kranktes Kind zu retten, hätten Sie eine umfangreiche
Werbeaktion gestartet, um Ihr Image wieder aufzupolie-
ren«, sagte sie ruhig. »Nun aber sind Ihre Nachfor-
schungen eher diskret, wenn auch erfolgreich. In den
Medien wurde noch nicht darüber berichtet.«
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und fügte hinzu:
»Und Sie müßten sich mein Schweigen nicht auch
noch erkaufen. Ich weiß, daß Giova Llorens sterben
wird.«
Steve Odds' kräftige Hand schloß sich um den
Schlüsselanhänger aus gelbem Plastik.
Die Frau zog die Tür hinter sich zu, und Odds war si-
cher, sie nie wiederzusehen. Was er jedenfalls hoffte.
Diese Frau hatte ihn das Schaudern gelehrt.
Er drückte auf den roten Knopf der Sprechanlage.
»Schicken Sie Milan und Toland zu mir, sofort!«
Neunundzwanzigstes Kapitel
Zorski, der einige Sekunden zuvor noch so fest ent-
schlossen war, mußte nun gegen die magnetische An-
ziehungskraft ankämpfen, die Alexander Sirchos auf
seine Gesprächspartner ausübte. Gegen das unwider-
stehliche Charisma, dessen er sich immer wieder be-
diente, wenn er sich einem wichtigen Kampf zu stellen
hatte. Und dies war ein wichtiger Kampf! Keiner der
beiden Männer ließ sich vom anderen an der Nase her-
umführen, und momentan beschränkten sie sich darauf,
den anderen zu beobachten, wobei die üblichen Höf-
lichkeitsbezeugungen die Heftigkeit des sich anbah-
nenden Kampfes nur sehr schwer verbergen konnten.
Sirchos nahm eine Flasche Cristal Roederer aus dem
feuchten Kübel, der das Wappen seiner Familie trug. Als
er den Champagner ausschenkte, gab er sich plötzlich
gut gelaunt, was bislang nicht oft der Fall gewesen war.
»Um einen Mann wieder in Schwung zu bringen, gibt
es nichts Besseres als einen guten französischen Cham-
pagner«, erklärte er.
Zorski begriff ganz genau, was Sirchos damit sagen
wollte. Die offenkundige Anspielung auf sein schlech-
tes Aussehen war um so unerträglicher, da er ganz ge-
nau wußte, daß auch er, der Milliardär, seit seiner An-
kunft in der Villa keinen einzigen Moment hatte ausru-
hen können. Physisch schien er jedenfalls in der Lage
zu sein, ein Tennismatch über fünf Sätze durchzustehen
und sich anschließend mit zwanzig Schwimmbecken-
längen zu entspannen. Als erfahrener Spieler wußte
Zorski, daß die körperliche Erscheinung und sogar die
Kleidung sich beträchtlich auf den Ablauf einer Partie
auswirken konnten.
Sirchos hob sein Glas.
»Wir haben großes Glück, Doktor Zorski.«
Der Chirurg stand reglos da und verzichtete absicht-
lich darauf, mit Sirchos anzustoßen.
»Sie haben einen genetischen Zwilling für Pamela ge-
funden?« fragte er mit zusammengekniffenen Augen.
Sirchos schien die Reserviertheit des Arztes nicht zu
irritieren. Er nippte an dem Champagner und stellte
sein Glas wieder hin.
»Das Wunder kommt aus Frankreich«, erklärte er.
»Ein junges Mädchen, das Opfer einer schweren Schä-
delverletzung geworden ist und nun in tiefem Koma
liegt. Die Ärzte haben die Hoffnung auf eine Rettung
aufgegeben ...«
Plötzlich hielt er einige Sekunden lang besorgt inne.
»Ich kann verstehen, daß es Sie schockiert, wenn ich
mich über das Unglück dieser Frau freue. Es fällt mir
schwer, diese Reaktion zu
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