Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
worüber wir sprechen.«
Trescents entschied sich für die Fabrik Hilados y Tejidos de San Andrés. Sie legten den Weg mit dem Hispano Suiza zurück, in dem eine unterkühlte Ruhe herrschte. Als sie ihr Ziel erreichten, sorgte der Rechtsanwalt dafür, dass sich die Belegschaft im Innenhof der Fabrikanlage aufstellte: alle Frauen auf einer Seite, die Männer auf der anderen, und die Kinder in der Mitte. Insgesamt waren es vierhundertzweiundzwanzig Leute. In Sorge um den Eindruck, den die Belegschaft bei dem so vornehmen Fabrikbesitzer hinterlassen könnte, veranlasste er noch, dass sich alle rasch Gesicht und Hände, Fingernägel inklusive, wuschen. Trescents redete pausenlos, während er den neuen Señor auf dem ganzen Weg durch die imposante Fabrikhalle begleitete, vorbei an den Webstühlen, den Färbebottichen – den »Kufen« – bis hin zu dem Büro, das Don Rodolfo bei seinen wöchentlichen Besuchen in der Fabrik zu nutzen pflegte.
Amadeo hingegen gab kaum ein Wort von sich. Er betrachtete alles sehr genau und nahm sich viel Zeit. Bei den Büroräumen angekommen, schloss er die Tür hinter sich, stützte sich auf einen Tisch – selbstverständlich ohne die Akkuratesse seiner Kleidung zu gefährden – und vertraute sich dem Rechtsanwalt der Familie an: »Sehen Sie, Trescents, das ist nichts für mich. Wir müssen eine Lösung dafür finden.«
Sie sprachen kein weiteres Wort. Auf dem gesamten Rückweg dachten die beiden Männer an den verstorbenen Don Rodolfo: Trescents mit der Wehmut eines treuen Angestellten, den der Umgangston und die Anforderungen des alten Besitzers geformt hatten, und Amadeo mit den Gewissensbissen eines Deserteurs.
An dem Tag beschloss der junge Erbe, nie wieder einen Fuß in eine seiner Fabriken zu setzen. Nur kurze Zeit später besprach er sich mit einem Notar. Und als Trescents nach einigen Wochen an einem der üblichen Besprechungstage mit seinen Aktenmappen und dringenden Problemen beladen im Stadtpalais eintraf, verschlug es diesem wegen Amadeos unverhofften Redeschwalls die Sprache.
»Ich habe beschlossen, Sie für alle meine geschäftlichen Belange als meinen Generalbevollmächtigten einzusetzen. Es ist nicht mehr lange, bis ich volljährig bin und selbst über mein Vermögen verfügen kann. In dem Moment erhalten Sie zehn Tage Zeit, um zwei Verwalter Ihres Vertrauens zu benennen, einen für die Industrias Lax und einen anderen für das Golorons-›Imperium‹, wie meine Mutter immer sagt. Jeder der beiden Verwalter wird eine Vollmacht erhalten, die jeweiligen Firmen nach eigenem Gutdünken zu leiten, aber unter Ihrer Aufsicht. Sie alle werden mir einmal im Monat Bericht erstatten, und bei der Gelegenheit werden die wichtigsten Themen besprochen. Für die dringenden Probleme sind Sie zuständig. Wir werden einen Vertrag aufsetzen, in dem alles bis ins letzte Detail ausgeführt wird. Selbstverständlich wird Ihre Vergütung dem Maß der Verantwortung entsprechen. Ach, ehe ich es noch vergesse, will ich Sie um etwas bitten – um einen persönlichen Gefallen.«
In den Rechtsanwalt kam etwas Leben, als erwache er soeben aus einer Trance. »Selbstverständlich, Señor Lax. Sagen Sie nur.«
»Ich möchte, dass Sie meinen Bruder als Vorarbeiter in Hilados y Tejidos de San Andrés einsetzen.«
»Als Vorarbeiter, Señor?«, fragte der Jurist lächelnd. »Bitte lassen Sie mich mit allem Stolz erwähnen, dass Ihr Bruder in der Lage ist, Positionen mit viel höherer Verantwortung zu übernehmen.«
»Als Vorarbeiter«, bekräftigte Amadeo, und um etwas milder zu wirken, fügte er noch hinzu: »Fürs Erste. Juan ist sehr jung, er muss noch viel lernen. Außerdem weiß ich, dass er an keinem anderen Ort glücklicher sein wird. Ist Ihnen sein starkes Interesse an der Arbeiterklasse nicht aufgefallen?«
Der Rechtsanwalt verzog sein Gesicht zu einer spöttischen Miene.
»Señor, das ist doch nur das Fieber der Jugend. Sein Interesse an Señorita Montserrat wird nicht von Dauer sein. Spätestens in ein paar Jahren ist alles vorbei, dann wird Ihr Bruder Anwalt sein und das Mädchen eine vergangene Laune.«
Amadeo dachte an die Zeugnisse seines Bruders, die genauso vortrefflich waren wie alles andere. Seine Beziehung zu dieser Montserrat, der Tochter, Enkelin und Urenkelin von Arbeitern, war nur der letzte Beweis für dessen leidenschaftlichen Charakter, der nicht fragte, ob etwas schicklich war oder nicht.
Amadeo hingegen sah darin keineswegs eine vorübergehende Laune. Für ihn
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