Die Geisterseherin (German Edition)
entfernte damit die Preisschilder, die noch immer an den Sachen baumelten.
„Es ist nicht anders, als heute morgen. Oder gestern... oder irgendeinem anderen Tag in all den Jahren. Ich werde runter gehen, Mutter wird lächeln und... mehr nicht. Sie wird mich Megumi nennen und dann das Abendessen servieren. Sie wird fragen, wie die Schule war und nichts wird sich von all den Tagen zuvor unterscheiden.“ Er sprach sich selbst Mut zu, als er aus der Schuluniform, die er nun schon so lange trug, schlüpfte. Er trug den Bikini darunter, den er auch am Meer angehabt hatte, weil er ursprünglich noch geplant hatte, ins Freibad zu gehen. Daraus war ja leider nichts mehr geworden... weshalb er jetzt leise seufzte und anschließend zuerst in den Jeansrock und dann das weiße OneShoulder-Top schlüpfte. Noch immer ein wenig unsicher und mit bangen Herzen warf er einen flüchtigen Blick in den Spiegel und beschloss zwei alte Schmuckstücke aus einer kleinen Schatulle, die unter seinem Bett stand, zu holen. Die Schatulle hatte er bereits seit Monaten nicht mehr in der Hand gehabt und sie war total verstaubt. Der Name „Megumi“ war in feinen Kanji in den Deckel eingelassen... dennoch hatte sie diese Schatulle nie zu Gesicht bekommen. Yuki hatte sie als Kind entdeckt und als Geburtstagsgeschenk gekauft... kurz darauf war seine Zwillingsschwester verstorben.
Jetzt verwahrte er darin einige Andenken an sie auf... unter anderem ein Photo von ihr und ein paar kleine Schmuckstücke, die sie einst besessen hatte. Nichts teures, welches Kind besaß schon Goldschmuck. Dennoch besaßen die Blumenhaarspange, der kleine metallene Ring und die Kette mit dem Q-Anhänger für Yuki einen großen Wert, der für ihn mit keinem Gold der Welt aufzuwerten war. Mit zitternden Finger griff er nach der Haarspange und tauschte sie durch die, die er sonst im Haar trug, aus, steckte dann den Ring an seinen Finger – es war ein Wunder, dass er ihm noch passte – und legte die Kette an.
Als er schließlich in den Spiegel schaute, da musste er für einen Moment kräftig schlucken. Das Bild, dass er sah... sein Spiegelbild... war weder sein eigenes, noch das seiner Schwester. Sayuri hatte wohl Recht, diese Sachen wären vermutlich untypisch für sie gewesen... zumindest für das Mädchen, dass damals starb. Wer wusste schon, wie sie sich in seinem Alter gekleidet hätte? Durch die Kette und vor allem die Haarspange sah er ihr dennoch so verdammt ähnlich, dass es gruselig war. Es war eine seltsame Mischung, die ihm aus dem Spiegel heraus anstarrte. Teilweise so extrem ähnlich... und doch vollkommen anders.
„Yu...mi...“, murmelte er leise, die beiden Vornamen von ihm und seiner Schwester vermischend.
„Das hier ist...“
Er wagte es nicht den Satz zu vollenden, den Gedanken zu denken, sondern drehte sich hastig wieder um, löste seinen Blick von dem Spiegel, schlüpfte in die Jacke und verließ sein Zimmer wieder. Er wusste, was er dachte, wie der Satz zu enden hatte. Aber noch immer hatte er Angst davor es zuzugeben.
Noch immer lebte er in der Angst vor seiner eigenen Wahrheit. Alles oder nichts, dachte er bei sich. Jetzt würde sich zeigen, wie verrückt seine Mutter wirklich war.
Sayuri hatte sich inzwischen ins Wohnzimmer zurückgezogen und wartete dort auf Yuki. Sie hatte nur kurz mit seiner Mutter geredet und das Gespräch dann eiligst wieder beendet und war schließlich ins Bad gestürmt und hatte ihre Sachen gewechselt. Jetzt saß sie in ihrem biederen „Das nette Mädchen von nebenan“-Kostüm auf dem Sofa und überlegte ernsthaft, ob sie nach Hause fahren sollte... Eigentlich musste sie ja auch noch ihre Eltern anrufen. Beide wussten nicht, was wirklich geschehen war, an dem Tag am Strand... ebenso, wie Yuki's Mutter es nie erfahren hatte. Sayuri hatte es ihnen sagen wollen, doch es nicht vermocht. Stattdessen hatte sie es in sich hinein gefressen, sich selbst belogen, behauptet, dass sie es innerhalb weniger Tage verarbeitet hätte. Aber... sie war sich nicht mehr ganz so sicher dabei. Unruhig zupfte sie an dem biederen Oberteil. Sie hatte ihrer Tante erzählt, dass sie neue Sachen gekauft hatte und ihre Reaktion war nur gewesen, dass diese Sachen Megumi sicherlich auch gut gestanden hätten. Sayuri fand diese Frau immer seltsamer und war sich langsam gar nicht mehr so sicher, ob sie diese wirklich als „verrückt“ bezeichnen würde. Ihre eigenen Eltern hatten nur zugestimmt, dass sie hier eine Weile lang wohnen dürfte, weil es ihr
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