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Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Titel: Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Funke
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des Dichters May den rettenden Strohhalm erreichen? Irgendwo hat er vor ein paar Tagen, in einer Zeitung oder einem Wochenblatt, darüber gelesen, wie vermögend dieser Erfolgsschriftsteller May sein soll. Als Mittelloser gestartet und heute einer der meistgelesenen Autoren. Ein Märchen. Auch Lilly, die Schwester, hat zu ihm, dem Bruder, gesagt: Halt dich an den May, Sascha, der wird dich nicht im Stich lassen. Der hat so gütige Augen.
    Karl May errette mich. Hilf mir.
    Der Maler ist vor einem seiner jüngsten Bilder stehen geblieben, einer Kartonzeichnung in Bleistift und Kohle, die er ohne Titel gelassen hat. Sie zeigt einen aufgebahrten Toten mit gefalteten Händen. Darüber leuchtet ein Kreuz, dem von allen Seiten mit sehnsüchtigen Gebärden „Seelen“ zustreben. Er weiß noch nicht, was er damit machen will, ob er sie noch umarbeiten, vergrößern, zu einem Gemälde ausbauen kann. Schon hat er die Faust erhoben, will auch diesem Bild einen Hieb versetzen, aber er senkt den Arm wieder und lässt nur ein Stöhnen hören. Er denkt daran, wie ihm die Idee zu diesem Bild gekommen ist. Es waren Anmerkungen Karl Mays zu seinem neuen Werk, an dem er gerade arbeitete. „Und Friede auf Erden“ sollte es heißen. Er hat die Worte des Dichters mitgeschrieben, die dieser damals im Frühsommer bei seinem Besuch hier im Atelier aus dem Kopfe zitierte:
Ein Strahlenkegel, wie aus einem in Himmelsnähe stehenden Leuchtturme kommend, brach durch und fiel hinüber auf die Berge, grad dahin, wo das Ziel unsers Rittes lag. Da flammte es augenblicklich auf, das Kreuz der Christenheit. „In hoc signo vinces – in diesem Zeichen wirst du siegen.“ Jawohl, das ist richtig. Aber nicht mit kriegerischen Waffen, durch gewappneten Verrat und Überfall, sondern durch das Wort der Liebe und durch die friedliche, versöhnende, ausgleichende Tat des Erlösers, welche er wagte, als er öffentlich sprach: „Die Letzten werden die Ersten und die Ersten die Letzten sein!“ Gleichen Raum und gleiches Recht für Jeden, der zur Menschheit gehört auf Erden!
Der Maler steht vor dem kleinen Karton, der ist nur 64 x 54 cm groß, ganz etwas Einfaches, auf bloßes Starkpapier gezeichnet. Ja, er werde sie mit nach Radebeul nehmen, beschließt er mit einem Mal, gerade diese Zeichnung, übermorgen, wenn er den ersten offiziellen Gegenbesuch bei May machen wird. Als Mitbringsel sozusagen, ein kleines Geschenk, mal sehen, was Karl May dazu sagt.
    *  *  *
    Obwohl an den Sonntagen viele Dresdner in die abwechslungsreiche Umgebung ihrer Stadt fahren, nach Eisenberg zum königlichen Wildgatter zum Beispiel oder zur Fasanerie oder in die Sächsische Schweiz, zu den Aussichtspunkten Bastei oder Rathen, oder auch nach Meißen, in die Domstadt, oder zum Spazieren in den Weinbergen der Lößnitz, trotz dieser vielfältigen Ausflugsmöglichkeiten war an diesem Sonntag, vielleicht, weil der diesjährige Oktober sich schon in den ersten Tagen recht ungemütlich zeigte, das Café Seidelmann in der Rampischen Gasse dicht gefüllt. Man hatte die Fenster geschlossen, die Gardinen zur Hälfte zugezogen, damit keiner bei einem Blick auf das hässliche Wetter da draußen verdrießlich wurde, und so blieb es angenehm dämmrig in dem großen Gastraum. Dick lag der Zigarrenrauch über den zierlichen weiß gedeckten Holztischen. Man aß sächsische Eierschecke oder noch warmen hausgemachten Apfelstrudel, trank seinen
Heeßen,
bei Seidelmann aus der eigenen, nebenan gelegenen Rösterei, man löffelte sein Birnenkompott mit Sahne, nippte an seinem Meißner Wein, während man teils vorsichtige, teils kräftige, immer aber ganz und gar fundierte Urteile über die Dinge der Kunst, der Weltanschauung, der Politik äußerte.
    Es kamen aber am Sonntagvormittag besonders Politiker, wichtige und weniger wichtige, bekanntere und unbekannte, Politiker der Stadt, der Kammerbezirke, des Landes, es kamen Zeitungsleute, Künstler, Maler, Schriftsteller in das Café Seidelmann. Sie saßen da, die Politiker, auch ein paar von den Zeitungsleuten, wenn sie von einiger Bedeutung waren, im schwarzen Sonntagsanzug, manche direkt vom Kirchgang aus der Frauenkirche oder der Sophienkirche hierher verschlagen, sie saßen ziemlich großspurig um die Tische, die Herren, ließen sich begaffen am Puls des Volkes, fühlten sich wichtig und modern. Das Königreich Sachsen war im Konzert der Deutschen Länder beinahe ein autonomer Staat, nächst Bayern und Preußen vielleicht der selbstbewussteste:

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