Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
der Maler, bleiben Sie bei uns. Ich bin auf Ihr Urteil gespannt, und auf einmal holt er aus einer Mappe, die er beinahe unbemerkt neben seinen Sessel gestellt hat, einen kleinen Zeichenkarton hervor. Hier, sagt er und reicht das Bild seinem Gastgeber, ein
Mitbringsel,
wie man in Sachsen sagt, und er ergänzt: Ich habe es unter dem Eindruck der Lektüre Ihres Buches „Et in terra pax“ entworfen. Bitte, bitte, nehmen Sie es an – als Geschenk eines Ihrer Verehrer. Ich habe ihm noch keinen Titel gegeben. Vielleicht fällt Ihnen etwas ein?
May hält die Zeichnung vor seiner Brust und betrachtet sie. Ganz still und ernst ist er geworden. Nach, wie es dem Maler scheint, endlosen Minuten gibt er den Karton seiner Frau Klara. Die kneift ihre hellen Augen zusammen, hält das Bild ein Stück ab, gibt es ihrem Mann mit einem Seufzer zurück.
Schweigen. Der Maler erschrickt. Gefällt es nicht? Hat er sich vergebens diese Mühe gemacht? Vergebens die Tür für eine neue Art von Illustrationen aufgestoßen? Gespannt, nervös blinzelnd, die kleinen festen Hände in seinem Schoß, wartet er.
Dann May, einen tiefen Zug aus seiner Zigarre paffend, tätschelt dem Gast die Knie.
Was soll ich sagen, lieber Freund, was soll ich Ihnen sagen. Mir fehlen die Worte. Ich kann Sie nur streicheln wie meinen Jungen, wieder und wieder streicheln. Meine Hände wissen, was mein Mund nicht herausbringt. Dieses Bild ist … es ist… ist kolossal. So klein es ist, so beeindruckend ist es. Und vollkommen. Ein vollkommenes Meisterwerk. Es zeigt eine ganz neue Richtung, genau jene Richtung, welche mein Buch anvisiert hat. Und Sie haben recht, mein lieber, lieber Freund, es lässt einen „ohne Worte“ zurück, indes
ich
, ein Mann des Wortes, ich werde, ich muss einen Titel finden … was sagst du dazu, mein Herz? May tastet nach der Hand seiner Frau. Sie gibt sie ihm, willig, bereit, stöhnt leise.
May sagt, und seine Haltung und der Tonfall haben in diesem Augenblick etwas feierlich Beschwörendes angenommen: Mein, lieber, lieber Freund, als ich mit meiner Frau im späten Frühling auf der Kunstausstellung war und Ihr Bild „Auf zum Kampf“ sah, da habe ich hernach gebetet, Gott möge mich mit dem Maler dieses Bildes zusammenführen. Denn gerade dieses Bild, für das Sie von der Presse und den ewig Gestrigen arg gescholten wurden, hat für mich eine Art Verkünderfunktion, es zeigt, was uns, was die Menschheit, erwartet. Am schwächsten Glied wird die Kette reißen, und sie haben erkannt, weil sie es kannten, es wird das russische Glied sein. Die Menschheit steht an einem Scheideweg, so wie sie damals zu Christi Geburt an einem Scheideweg gestanden hat! An einem Scheideweg stehen wir alle miteinander – diejenigen, die es wissen, diejenigen, die es ahnen, und auch die Ahnungslosen – wir stehen an einer Menschheitswende, und ihr kleiner Karton, den Sie mir heute mitgebracht haben, unterstreicht das ebenfalls, zeigt das, was ich meine, was ich in dem Buch „Et in terra pax“ mir von der Seele schrieb. Und so rufe ich voller Freude aus:
Lieber Herr Schneider wir haben uns gefunden!
Wir fanden uns, weil wir uns finden mussten, unbedingt finden mussten! Weil Gott uns einen Engel sandte, der uns zusammengeführt hat, und zwar genau zu jenem Zeitpunkt, als die Notwendigkeit, der Zwang dazu am größten gewesen ist. Verstehen Sie, lieber Freund?
Wir sind Brüder im Geiste,
Geistesbrüder
! Durch die Bande des Verstandes und des Herzens auf immer verbunden.
Erinnern Sie sich, was ich im „Friede auf Erden“ schrieb?
May blickt sein Gegenüber scharf an, und der Maler, der zuerst ein wenig zusammengezuckt ist, antwortet: Oh ja, ich erinnere mich. Sie schrieben „Der Mensch glaubt, zu schieben, und er wird geschoben!“ May ernst, indes mit leuchtenden Augen, führt die Rede weiter, zitiert aus seinem Werk „ …tritt ihm ein Ereignis nahe, welches er nicht selbstgefällig auf seine Rechnung setzen kann, obwohl sich später zeigt, dass es von großem Einfluss auf sein Leben ist, so geniert es ihn, dass hoch über ihm eine weise, mächtige Führung waltet, welche ihn nicht um Erlaubnis fragt, mit ihm tun zu dürfen, was sie für richtig hält, und so hat er das vollständig nichtssagende und inhaltslose Wort Zufall erfunden, mit welchem er zwar seine Ohnmacht eingesteht, weil er nicht anders kann, aber auch keine ihn beherrschende und bewusst handelnde Potenz anerkennt … May macht eine Pause. Er ist aufgestanden, nimmt die Hände auf
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