Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
mich verändert habe. Du kannst mir jetzt vertrauen.«
Shirley drehte sich zu Joséphine um und sah sie mit ernster Miene an.
»Es geht nicht um mich, Jo. Ich würde dadurch andere Menschen in Gefahr bringen. Und statt von ›Gefahr‹ sollte ich lieber von großer Gefahr reden, von seismischen Erschütterungen, Erdbeben …«
»Man kann nicht ewig mit einem Geheimnis leben.«
»Mir gelingt das ganz gut. Ehrlich, Jo, ich kann nicht. Verlang nicht das Unmögliche von mir …«
»Du glaubst also, ich könnte nicht für mich behalten, was Gary seit Jahren verschweigt? Hältst du mich für so schwach? Du weißt doch, wie sehr es mir geholfen hat, dass du die Wahrheit über das Buch kennst …«
»Ich brauche aber keine Hilfe, ich lebe seit meiner Kindheit damit. Ich bin mit Geheimnissen aufgewachsen. Sie sind meine zweite Natur …«
»Ich kenne dich jetzt seit acht Jahren. Und nicht ein einziges Mal hat mir jemand ein Messer an die Kehle gehalten und mich nach dir ausgefragt.«
»Das stimmt…«
»Also …«
»Nein. Dräng mich nicht.«
Schweigend gingen sie weiter. Joséphine hakte sich bei Shirley ein und lehnte sich an die Schulter ihrer Freundin.
»Warum hast du eben gesagt, du seist steinreich?«
»Habe ich das gesagt?«
»Ja. Ich habe dir angeboten, dir aus der Klemme zu helfen, wenn du Geld brauchst, und du hast gesagt: ›Hör auf, ich bin selbst steinreich‹ …«
»Da siehst du, wie gefährlich Worte sein können, wenn man zu vertraut miteinander wird, Joséphine. Man wird nachlässig … In deiner Gegenwart achte ich nicht mehr darauf, was ich sage, und die Worte sprudeln aus mir heraus wie die Teile deines Puzzles. Eines Tages wirst du die Wahrheit ganz allein herausfinden … im Waschbecken irgendeines Luxushotels!«
Sie lachten beide.
»Ab jetzt werde ich mich nur noch in Waschräumen aufhalten. Das wird mein Kaffeesatz. Becken, liebes Becken, sag mir, wer ist diese Frau, die ich abgöttisch liebe und die mir ihr Geheimnis nicht verraten will?«
Shirley antwortete nicht. Joséphine dachte daran, was sie vorhin über verräterische Worte gesagt hatte, die aus einem heraussprudeln. Philippes Aufmerksamkeit neulich hatte sie verwirrt. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass mir der zärtliche Unterton in seiner Stimme gefallen hat. Überrascht von den Gefühlen, die so unerwartet auf sie einstürmten, hatte sie aufgelegt. Beim Gedanken daran stieg ihr erneut das Blut in die Wangen.
»Woran denkst du, Joséphine?«, fragte Shirley im bleichen Licht der Aufzugbeleuchtung.
»An nichts«, wehrte sie mit einem Kopfschütteln ab.
Auf der Fußmatte vor Shirleys Tür saß ein schwarz gekleideter Mann. Er sah ihnen entgegen, doch er stand nicht auf. »Oh! My God!« , sagte Shirley leise, dann schaute sie Jo an und fügte hinzu: »Verhalte dich ganz natürlich und lächle. Du kannst reden, er versteht kein Französisch. Kann mein Sohn bis morgen bei dir bleiben?«
»Kein Problem …«
»Kannst du auf ihn warten und dafür sorgen, dass er auf keinen Fall bei mir klingelt? Er soll sofort zu dir gehen. Dieser Mann darf nicht wissen, dass er bei mir wohnt, er glaubt, er sei auf einem Internat.«
»Einverstanden …«
»Ich sage dir Bescheid, wenn er wieder weg ist, aber bis dahin pass gut auf ihn auf. Verbiete ihm, nach Hause zu kommen.«
Sie küsste sie, drückte ihre Schulter, ging auf den Mann zu und sagte ungezwungen: »Hi, Jack, why don’t you come in?«
Gary verstand sofort, als Jo ihm von dem schwarz gekleideten Fremden erzählte.
»Ich habe meine Schulsachen dabei und gehe morgen früh von hier aus gleich zur Schule, sag Maman, dass sie sich keine Sorgen machen soll, ich kann auf mich aufpassen.«
Beim Essen bestürmte Zoé ihn mit neugierigen Fragen. Sie war vor Gary und Hortense nach Hause gekommen und hatte den schwarz gekleideten Mann auf der Fußmatte gesehen.
»Ist der Mann dein Papa?«
»Zoé, sei still!«, schnitt ihr Jo das Wort ab.
»Ich darf doch wohl noch fragen, ob der Mann sein Papa ist!«
»Er hat keine Lust, darüber zu reden. Das siehst du doch … Geh ihm nicht auf die Nerven.«
Zoé nahm einen Bissen von ihrem Kartoffelgratin, kaute widerwillig darauf herum und legte die Gabel traurig zurück auf den Teller.
»Mir fehlt mein Papa nämlich sehr … Ich fand es besser, als er noch da war … Es ist gar nicht schön, so ohne Papa.«
»Zoé, du nervst«, brauste Hortense auf.
»Ich hab immer Angst, dass die Krokodile ihn fressen. Die
Weitere Kostenlose Bücher